Haus der deutschen Sprache
Deutsch - gestern und heute

Dikwanst, Rathgeber, Freygeist

Schottelius (1612-76) über deutsche Wortzusammensetzungen

denk                   nis             keit(s)                 ver        be
schein                lich
maß(“)                                      ig                ig
un        ung        halt(“)               be                keit

Lego-Steine, Puzzle-Teile? Silbenrätsel? Auf jeden Fall ist das alles, was man (sprachlich) für die Unbedenklichkeitsbescheinigung und die Verhältnismäßigkeit braucht.

Benutzerfreundlichkeit, sattelfest, fortschreiben, Begabtenförderung, sozialverträglich – wer diese Wörter noch nicht gehört hat, aber ihre Bestandteile kennt, braucht nicht lang zu rätseln.

Stoßdämpfer, Schiebedach, Abgasuntersuchung, Wegfahrsperre. Diese Wörter sind so jung wie die technischen Neuerungen, für die sie stehen. Alle ihre Einzelteile hingegen sind älter als das Kraft-fahr-zeug.

Wie kaum eine andere Sprache kann die deutsche bei Bedarf neue Wörter aus ihrem Bestand an Stammwörtern und Vor-, Zwischen- oder Nachsilben zusammenfügen. Hat das Haus eine Tür und gibt’s zu der einen Schlüssel, ist das natürlich ein Haustürschlüssel. Den braucht man einer Fünfjährigen nicht zu erklären. Kellerschlüssel bildet sie dann selber.

An mehreren anderen Stellen im HDS ist von dieser Besonderheit unserer Sprache die Rede, werden Bespiele für ihre Vielfalt gezeigt.

SchotteliusWeder die Leichtigkeit, mit der sich deutsche Silben und Wörter zu immer neuen verbinden lassen, noch das Staunen und Nachdenken darüber sind eine Errungenschaft jüngerer Generationen.

Professor Herbert Brekle (Sprachwissenschaftler, Universität Regensburg) hat dankenswerterweise für das HDS einen Beitrag verfasst, in dem er uns den großen deutschen Sprachgelehrten Schottelius und dessen Beobachtungen von vor bald vierhundert Jahren zur deutschen Wortzusammensetzung vorstellt.

Reichtum und Schöpfungskraft der deutschen Wortbildung
Ein Blick in die Geschichte ihrer Erforschung

Von Herbert Brekle

Gestützt auf die grundlegenden Untersuchungen von Justus Georg Schottelius (1612-1676) sollen hier einige der zentralen Eigenschaften deutscher Wortbildungsmuster, deren Ausdrucksreichtum und sprachschöpferische Leistungsfähigkeit beim Benennen alter und neuer Begriffe aufgezeigt werden. Neben im wesentlichen heute noch gültigen Einsichten in die Grammatik der deutschen Wortbildung wird dabei auch ein Blick auf die Denk- und Arbeitsweise des bedeutendsten Sprachforschers des Barockzeitalters ermöglicht.

Justus Georg Schottelius (1612-76) studierte Rechtswissenschaft in Leiden und Wttenberg. 1641 erschien seine „Teutsche Sprachkunst“ und 1663 sein umfängliches Hauptwerk (2 Bände, ca. 1500 Seiten) „Ausführliche Arbeit von der Teutschen HaubtSprache“. 1646 an der Universität Helmstedt zum Doktor der Rechte promoviert, wurde er Rat der fürstlichen Regierung Dannenberg.

Werk und Wirkung

Schottelius’ Hauptwerk, das auf seine „Teutsche Sprachkunst“ von 1641 zurückgeht, verbreitete sich in vielen deutschen Ländern und noch darüber hinaus. Es ist das Hauptwerk seines ganzen Zeitalters und beeinflußte noch Leibniz. Schottelius’ Ziel war es, die Gesetzmäßigkeit(en) des Deutschen, seine „Grundrichtigkeit“ nach Rechtschreibung, Wortschatz, Wortbildung und Satzbau („Wortfügung“) zu erforschen und systematisch darzustellen. Seine Grammatik ist wortbasiert, genauer, er gründete die „Grundrichtigkeit“ des Deutschen auf deren „uhrsprüngliche natürliche Stammwörter: welche als stets saftvolle Wurtzelen den ganzen Sprachbaum durchfeuchten …“. Diese Auffassung zeigt sich deutlich an dem Gewicht und Umfang, den die Wortbildungslehre im Gebäude seiner Grammatik einnimmt. Schottelius war der erste, der es vermochte, die Komplexitäten der Wortableitung und -zusammensetzung theoretisch zu durchdringen und den Reichtum der Bildungsarten auch empirisch zu belegen.

Er war auch wohl der erste deutsche Sprachforscher, der das Hochdeutsche als deutsche Gemeinsprache verstanden hat, unabhängig von ihren regionalsprachlichen Ausprägungen (Dialekten). Seine Hochschätzung des Deutschen drückt sich in begeisterten Lobpreisungen der Schönheit und des Reichtums der deutschen Sprache aus, die auch als literarische Kunstwerke gelten dürfen. Hugo von Hofmannsthal hat sie 1927 zu Recht in seinen Sammelband „Wert und Ehre der deutschen Sprache“ aufgenommen.

Schottelius’ Zeitgenossen stellten ihn neben die großen Gelehrten und Grammatiker des antiken Roms. Seine deutsche Grammatik hatte bis weit ins 18. Jahrhundert hinein großen Einfluß und wurde entsprechend gewürdigt.

Wortzusammensetzung

Titelkupfer der "Teutschen HaubtSprache" von 1663 In seiner „6. Lobrede von der Teutschen HaubtSprache“ erkennt Schottelius, „daß eine jede Sprache eine gewisse / und nur eine wenige Anzahl Stammwörter habe / gegen der grossen Menge derer Dinge / so da unterschiedlich zubenahmen seyn…“. Er stellt also fest, daß die Menge der einfachen Wörter („Stammwörter“) in jeder Sprache begrenzt ist, und deshalb Titelkupfer der „Teutschen HaubtSprache“, 1663 für die Benennung der unbegrenzten Menge der dem Menschen möglichen Vorstellungen und Begriffe nicht ausreichen kann. Aus dieser Schwierigkeit können insbesondere den Deutschen die im System ihrer Sprache angelegten Möglichkeiten heraushelfen, nämlich nach Bedarf immer wieder neue Wörter zu bilden.
Titelkupfer der „Teutschen HaubtSprache“, 1663

Die Bedeutungsstruktur zusammengesetzter Wörter hat Schottelius klar erkannt: „…das [sic] ein jedes verdoppeltes Wort abgetheilet werde in zwey Glieder …: Das eine heisset Grund / das andere Beyfügig / …“. Heute würden wir sagen, daß jedes zusammengesetzte Wort aus einem bestimmten und einem bestimmenden Wort besteht, z.B. Tür in Haustür ist das bestimmte, Haus das bestimmende Wort; letzteres bestimmt also eine Art von Türen näher, mit anderen Worten: Haustür steht für eine Teilklasse aller Türen. Das bestimmte Wort steht an letzter Stelle, das bestimmende davor. Das grammatische Geschlecht einer Wortzusammensetzung richtet sich demgemäß immer nach dem bestimmten oder Grundwort: die Tür die Haustür.

Schottelius unterscheidet zehn Arten der Wortzusammensetzung, die hier nicht alle besprochen werden können. Die erste umfaßt solche Zusammensetzungen, „welche aus lauter Nennwörteren entstehet“. Fügt man zwei Hauptwörter (auch „Stammwörter“ genannt) zusammen, ergeben sich Komposita wie Landtag, Hauptmann; aus drei Stammwörtern gewinnt man Landfriedbruch (wobei Schottelius allerdings auf das Problem nicht eingeht, wie drei Wörter in den bestimmenden und den bestimmten Teil einer Wortzusammensetzung zu gliedern sind. Es gibt zwei Möglichkeiten: Land + Friedbruch oder Landfried + Bruch. Daraus ergeben sich auch zwei Bedeutungen: ‚irgendein Bruch des Friedens in einem Lande’ oder ‚Bruch des Landfriedens’, wobei Landfriede seinerseits einen bestimmten juristischen Begriff bezeichnet. In beiden Fällen besteht die Dreifachzusammensetzung aus einem zweigliedrigen Kompositum + einem einfachen Stammwort. Im ersten Fall ist Friedbruch das bestimmte Wort, im zweiten ist es Bruch.).

Im weiteren bringt Schottelius jeweils lange Listen anderer Arten von Wortzusammensetzungen, die er je nach den Wortarten unterscheidet, die darin vorkommen.

  • Hauptwort + Eigenschaftswort („Beyständiges“): ruhmwürdig, kunstreich, zollfrey, sorgenfrey, silberklar

Schottelius unterscheidet hier zwischen der Wortart Eigenschaftswort („Beyständiges“) und der Bestimmungsfunktion „Beyfügig“ in einer Zusammensetzung. Ersteres ist eine Lehnübersetzung aus lateinisch Adjektiv, letzteres bezieht sich auf das erste, bestimmende Glied einer Wortzusammensetzung: Ruhm in ruhmwürdig ist „beyfügig“. Würdig ist ein Adjektiv („Beyständiges“) und das bestimmte Glied („Grund“) der Zusammensetzung. Diese ist deshalb insgesamt wiederum ein Eigenschaftswort, etwas „Beyständiges“, z.B. in dem Satzglied ein ruhmwürdiger Feldherr.

In umgekehrter Reihenfolge erscheinen die beiden Wortarten in dem folgenden Typ von Zusammensetzung:

  • Eigenschaftswort + Hauptwort: Freygeist, Freybrief, Dikwanst, Früsommer

Zwei weitere Arten von Wortzusammensetzungen:

  • Hauptwort + „Zeitnennwort“: Rathgeber, Sprachlehrer

„Zeitnennwort“ soll hier heißen: ein aus einem Zeitwort (lehren) abgeleitetes Hauptwort (Lehrer). (Siehe unten zur Endung -er ).

Zu den Zusammensetzungen rechnet Schottelius auch Bildungen mit „Vorwörtern“:

„Vorwort“ (Präposition) + Zeitwort: erheirathen, vertieffen, hinsinken, losfahren weggleiten … Er unterscheidet hier nicht zwischen unselbständigen „Vorsilben“ (Präfixen) wie er-, ver- und selbständigen Umstandswörtern wie los, hin und weg.

Wortableitung

Neben den verschiedenen Arten der Wortzusammensetzung beschreibt Schottelius auch die Arten der Wortableitung:

„Die Ableitung aber bestehet darin / wenn etzliche gewisse Endungen / die selbst nichts bedeuten / dem Nennworte beygefüget werden / und zwar zu ende / …“. Solche „Endungen“ können in einem Satz nicht als selbständige Wörter vorkommen. Sie würden dann „nichts bedeuten“: *Ein ung liest ein Buch ist ein sinnloser Satz. Die „Endung“ (heute: Suffix) -ung kann nur auf der Ebene der Wortbildung erscheinen, z.B. als Ableitungssuffix am Stamm des Zeitworts sperr-, was Sperrung ergibt und ‚Handlung des Sperrens’ bedeutet. Dieses Suffix leitet also aus einem Zeitwort ein Hauptwort ab. Wie bei einer Zusammensetzung haben solche abgeleiteten Wörter die Struktur ‚bestimmendes + bestimmtes Glied’. Das Suffix -ung hat die Funktion eines Hauptwortes weiblichen Geschlechts mit der Bedeutung ‚Handlung, Tat’ und macht zusammen mit dem Stamm des Zeitwortes sperr- als bestimmendes Glied ein neues Hauptwort (die) Sperrung.

Schottelius zählt 23 „Haubtendungen“ auf, die alle einsilbig sind:
-bar, -e, -ei, -el-er, -haft, -heit, -ig -keit, -lein-niß -schaft, -tum, -ung.

Einige Beispiele aus Schottelius’ reichhaltiger Sammlung für mittels solcher „Endungen“ abgeleitete Wörter:

-bar
als Quasi-Adjektiv leitet aus Stämmen von Zeit-, Haupt- und Eigenschaftswörtern neue Eigenschaftswörter ab, „bedeutend die Eigenschaft / Menge oder Zugehör des selbstendigen Nennwortes“: ehrbar, fehlbar, kostbar, tragbar, wunderbar

-er
Hier unterscheidet Schottelius drei Bedeutungen der Ableitung:
1. Täterwörter (von Zeitwörtern abgeleitet): Antworter, Büsser, Fresser, Kläger
2. „Amptswörter“ (Amts-, Berufs- oder Artbezeichnungen): Balbirer (Barbier), Soldner (Söldner), Zwitter
3. Herkunftswörter: Africaner, Italiäner, Unger (Ungar) …

-heit
leitet aus Eigenschaftswörtern und Hauptwörtern weibliche abstrakte Hauptwörter ab: Algemeinheit, Anwesenheit (aus: anwesend), Blindheit, Nachkommenheit, Pfaffheit

-keit
leitet aus Eigenschaftswörtern, die ihrerseits „albereit [bereits] Abgeleitete seyn / und auf bar / ig / lich oder sam ausgehen“ weibliche abstrakte Hauptwörter ab: Achtbarkeit, Einsamkeit, Eilfertigkeit, Frölichkeit

-ling
leitet aus Zeit-, Haupt- und Eigenschaftswörtern männliche Hauptwörter ab; „bedeuten eine Verwantschaft / Zugehör / Abkunft etc.“: Abkömling, Höfling, Jüngling, Münchweihling (zum Mönch Geweihter) …

Am Ende des Kapitels über die Wortableitung warnt Schottelius davor, solche Wortbildungen blindlings und ohne Verstand zu produzieren. Es sei „nicht jedwederem erlaubet / diese Haubtendungen der abgeleiteten an jede Stamm- und andere Wörter nach Belieben anzuhengen / und nach jedes Einfällen neue Derivata [Ableitungen] zumachen …“.

Das heißt also, daß der sprachschöpferische Sprecher und Schreiber des Deutschen sich des grundsätzlich gegebenen Reichtums auch an neuen Wortbildungen nur aufgrund seines gut entwickelten Sprachgefühls und Wissens um die Regelhaftigkeit der deutschen Wortbildungsarten bedienen soll.

Der von Schottelius gepriesene und in vielen Einzelheiten untersuchte Reichtum an Wortbildungsarten des Deutschen mag uns heute als Mahnung dienen, unsere Sprache nicht unnötigerweise mit fremden, oft gar nicht oder falsch verstandenen Ausdrücken aus dem Englischen zu verunzieren.