Haus der deutschen Sprache
Gedicht des Monats

Gedicht des Monats März 2009

GoetheGenauer: Dieses Mal möchte das HDS seine Gäste mit zwei Gedichten begrüßen.

Der Dichter ist in beiden Fällen Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832), und beide Male sind es Verse, die der Autor nicht als selbständige Gedichte veröffentlicht hat, sondern als lyrische Einlagen in umfangreicheren Werken. So erinnern sie ein wenig an die herausgehobenen Arien in der Oper.

Das erste Gedicht wurde dem HDS schon vor Monaten von Roland R. in Bruchköbel vorgeschlagen (“mein Lieblingsgedicht“). Doch damals passte es nicht recht in die Jahreszeit, nun aber sehr wohl:

Vom Eise befreit sind Strom und Bäche
Durch des Frühlings holden, belebenden Blick;
Im Tale grünet Hoffnungsglück;
Der alte Winter, in seiner Schwäche,
Zog sich in rauhe Berge zurück.
Von dort her sendet er, fliehend, nur
Ohnmächtige Schauer körnigen Eises
In Streifen über die grünende Flur;
Aber die Sonne duldet kein Weißes:
Überall regt sich Bildung und Streben,
Alles will sie mit Farben beleben;
Doch an Blumen fehlt’s im Revier,
Sie nimmt geputzte Menschen dafür.
Kehre dich um, von diesen Höhen
Nach der Stadt zurückzusehen!
Aus dem hohlen finstern Tor
Dringt ein buntes Gewimmel hervor.
Jeder sonnt sich heute so gern.
Sie feiern die Auferstehung des Herrn,
Denn sie sind selber auferstanden,
Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern,
Aus Handwerks- und Gewerbesbanden,
Aus dem Druck von Giebeln und Dächern,
Aus der Straßen quetschender Enge,
Aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht
Sind sie alle ans Licht gebracht.
Sieh nur, sieh! wie behend sich die Menge
Durch die Gärten und Felder zerschlägt,
wie der Fluß, in Breit’ und Länge,
So manchen lustigen Nachen*) bewegt,
Und, bis zum Sinken überladen,
Entfernt sich dieser letzte Kahn.
Selbst von des Berges fernen Pfaden
Blinken uns farbige Kleider an.
Ich höre schon des Dorfs Getümmel,
Hier ist des Volkes wahrer Himmel,
Zufrieden jauchzet groß und klein:
Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!

   *) Kahn

Der Sprecher dieser Verse ist kein Geringerer als Dr. Heinrich Faust und der Fundort Goethes wohl bekanntestes Drama „Faust. Der Tragödie erster Teil“ (1808), die Geschichte also von der Wette zwischen einem ehrgeizigen Wissenschaftler und Mephisto, dem Teufel. Die Szene heißt „Vor dem Tor“ (einer Stadt). Dort flaniert am Auferstehungstag der Titelheld und spricht zu seinem Begleiter, dem Gehilfen Wagner. Irgendwann hat jemand diese Verse “Osterspaziergang“ genannt, und unter diesem Titel sind sie bekannt geworden.
Was hat dieses „Gedicht“ so beliebt gemacht, ihm ein Eigenleben auch außerhalb der Faust-Tragödie gesichert?Ist’s die intensive Sinnlichkeit der Farben, der Geräusche und Bewegungen? Ist es der uns vertraute Anblick des Wettstreits zwischen scheidendem Winter und nahendem Frühling? Wecken die freudigen Stimmen, der fröhliche Übermut der Menschen unser “Mitgefühl“?Oder ist es der kraftvoll-plausible Dreischritt?
Goethe: Faust I. Erstausgabe
Erstausgabe

Die ersten elf Zeilen beobachten einen bewegten Machtkampf in der Natur selbst. Der Frühling siegt, kommt aber nicht ganz an sein “Ziel“. Noch ist sie leer, die Flur. “Doch an Blumen fehlt’s im Revier, / Sie  nimmt geputzte Menschen dafür“.

Johann Wolfgang von Goethe (1749-1833) Dieses raffinierte Bild leitet den zweiten Teil ein, bringt die Menschen in den Blick – ein “buntes Gewimmel“. Doch das Spektakel wird aus der Ferne beobachtet. “Sieh nur, sieh!“, ermuntert Faust seinen Begleiter. “Selbst von des Berges fernen Pfaden / Blinken uns farbige Kleider an.“ Das Anschauen, der Anblick, das Auge – ein immer wiederkehrendes Motiv bei Goethe. Seine “Weltanschauung“ ist oft ganz wörtlich zu nehmen.In den letzten vier Versen, dem dritten Teil, verringert sich die Distanz: “Ich höre schon…“. Damit erst kommt das “ich“ ins Spiel. Das erste ist das hörende Ich des Beobachters, in der Schlusszeile ist es das der Beobachteten. Dieser letzte Vers ist wieder eines der geflügelten Worte, die wir – oft, ohne ihren Ursprung in der deutschen Klassik zu kennen – noch heute gebrauchen (siehe auch den vorletzten Abschnitt beim Gedicht des Monats Januar 2009 ).
Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832)

Aus Baku, der Hauptstadt Aserbaidschans am westlichen Ufer des Kaspischen Meeres, erreichte das HDS der zweite Vorschlag, Verse Goethes zum Gedicht des Monats zu nehmen.

In Aserbaidschan spricht man Aserisch, eine Turksprache. Bis 1925, damals war Aserbaidschan ein Teil der Sowjetunion, schrieb man diese Sprache mit arabischen Buchstaben, dann mit lateinischen und seit 1940 mit russisch-kyrillischen. Heute wird wieder lateinisch (mit einigen der türkischen Sonderzeichen) geschrieben.

In Aserbaidschan lernt man auch Deutsch. Medina Jagubova schrieb dem HDS “mit besten Grüßen aus der schönen Stadt Baku“:

Brief von Medina Jagubova

Nun “ihr“ Gedicht:

Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,
Im dunkeln Laub die Goldorangen glühn,
Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
die Myrte still und hoch der Lorbeer steht,
Kennst Du es wohl?
Dahin! Dahin
Möchte’ ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn!

Kennst du das Haus? Auf Säulen ruht sein Dach,
Es glänzt der Saal, es schimmert das Gemach,
Und Marmorbilder stehn und sehn mich an:
Was hat man dir, du armes Kind, getan?
Kennst du es wohl?
Dahin! Dahin
Möchte ich mit dir, o mein Beschützer, ziehn!

Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg?
Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg,
In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut,
Es stürzt der Fels und über ihn die Flut:
Kennst du ihn wohl?
Dahin! Dahin
Geht unser Weg; o Vater, laß uns ziehn!

Zufall oder nicht, dass unsere aserbaidschanische HDS-Besucherin dieses Gedicht bei einem Aufenthalt in Weimar für sich entdeckt hat? Dort jedenfalls lebte Goethe seit 1775, und dort ist es entstanden, “versteckt“ in seinem umfangreichen Bildungsroman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ (1795/96). Das ist die Geschichte eines jungen Mannes, den die Begeisterung für das Theater eine Weile vom familiär vorgezeichneten Weg zum bürgerlichen Kaufmannsberuf ablenkt.

Wilhelm schließt sich einer wandernden Theatertruppe an und wird zum Beschützer eines etwa zwölfjährigen Mädchens, das ihm dafür mit kindlicher, wenn in dem Gedicht auch schon fast weiblich klingender, Liebe dankt. Wie Mignon – so heißt das Mädchen – zu dem Thema dieses Gedichts gekommen ist, bleibt im Kontext des Romans undeutlich. Doch wir wissen, Goethe hatte 1786 bis 1788 eine lange und erlebnisreiche „Italienische Reise“ unternommen, die sein Leben und sein Werk fortan prägte. Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre Preiswerte Ausgabe

In „Mignons Lied“, unter diesem Titel finden sich die Verse in mancher Sammlung von Gedichten, fällt der Name “Italien“ nicht, und  doch verstehen wir schon in der ersten Zeile, dass nur dieses Land gemeint sein kann.

Goethe in Italien
Goethe bei Rom, Gemälde (1786) von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein

Drei äußerst sparsam abgebildete Merkmale – Zitronenblüte und Orangen, die Architektur der Antike oder Renaissance und die Landschaft der Alpen oder der Apenninen – und schon erkennen wir Italien, die unauslöschliche Sehnsucht der Nordländer – “dahin! Dahin laß uns ziehn!“.

Espresso, Cappuccino oder Pizza gibt’s heute an der nächsten Straßenecke, sicher auch in Baku. Unser romantisches Fernweh aber gilt weiter dem „Land, wo die Zitronen blühn“.

Medina Jagubova erhält den Buchpreis. In der deutschen Botschaft in Baku (Aserbaidschan) hat Medina Jagubova den Buchpreis des HDS für ihren Gedichtvorschlag entgegengenommen.