Haus der deutschen Sprache
Gedicht des Monats

Gedicht des Monats Juli 2010

ABENDLIED

Augen, meine lieben Fensterlein,
Gebt mir schon so lange holden Schein,
Lasset freundlich Bild um Bild herein:
Einmal werdet ihr verdunkelt sein!Fallen einst die müden Lider zu,
Löscht ihr aus, dann hat die Seele Ruh‘,
Tastend streift sie ab die Wanderschuh‘,
Legt sich auch in ihre finstre Truh‘.

 

Noch zwei Fünklein sieht sie glimmend stehn
Wie zwei Sternlein, innerlich zu sehn,
Bis sie schwanken und dann auch vergehn,
Wie von eines Falters Flügelwehn.Doch noch wandl‘ ich auf dem Abendfeld,
Nur dem sinkenden Gestirn gesellt;
Trinkt, O Augen, was die Wimper hält,
Von dem goldnen Überfluss der Welt!

 

Diese Verse hat der Schweizer Dichter Gottfried Keller (1819-90) geschrieben. Als Gedicht des Monats hat sie Gigi Gottwald in Südafrika dem HDS vorgeschlagen, und das hat sie so begründet:

Ich habe soeben das Haus der deutschen Sprache entdeckt und möchte sofort einziehen! Als erstes Mobiliar bringe ich folgendes Gedicht mit, das eines meiner Lieblingsgedichte ist. Es verbindet die Freude an der Schönheit dieser Erde mit dem Bewusstsein des unausweichlichen Todes. Zwischen den beiden Gefühlen scheint mir eine Wechselbeziehung zu bestehen: je intensiver der Genuss der Schönheiten dieser Welt, desto schmerzlicher die Erkenntnis von der Vergänglichkeit alles Schönen; je stärker die Todesahnung, desto tröstlicher die Schönheit der Natur. Für mich spricht aus dem Gedicht die heitere Gelassenheit eines Menschen, der mit sich selbst im Einklang ist. So wäre ich auch gern.

Gottfried KellerGottfried Keller, ein großer unter den deutschsprachigen Dichtern des 19. Jahrhunderts, ist treuen Besuchern des HDS bekannt: Bei der Präsentation der Monatsgedichte August 2009 und Februar 2010 finden sich Verse von ihm. Gewiss erinnern sich manche unserer Gäste auch an ihre Schulzeit und die Lektüre kürzerer Erzählungen von Keller, vielleicht an “Kleider machen Leute“ (aus der Sammlung “Die Leute von Seldwyla“) oder an “Das Fähnlein der sieben Aufrechten“ (“Züricher Novellen“).

Wer allerdings den langen, autobiographischen Schlüsselroman “Der grüne Heinrich“ liest, der wird sich fragen: Wirklich “heitere Gelassenheit … mit sich selbst im Einklang“? Der Roman gibt eher Zeugnis von einem unruhigen Leben, von Selbstzweifel, von Not und Ungewissheit.                        .

Gottfried Kellers "Der Grüne Heinrich"

Frau Gottwalds Diagnose ist dennoch richtig. “Der grüne Heinrich“ ist nämlich schon 1854/55 entstanden, also in der Mitte von Kellers Leben, das “Abendlied“ hingegen erst 1879. Da war Keller 60 Jahre alt, wirtschaftlich gesichert und als Dichter endlich hoch geachtet. Die langwährenden politischen Umbrüche in der Schweiz und in Deutschland, die Keller auch persönlich zu spüren bekommen hatte, waren inzwischen der bürgerlichen Ruhe und staatlichen Stabilität der frühen Gründerzeit gewichen. Längst und endgültig hatte sich Keller, nach suchenden Jahren in München, Heidelberg und Berlin, wieder seiner eidgenössischen Heimat zugewandt. Mit anderen Worten: Der jugendliche, so begeisterte wie erfolglose Maler, der unruhig Wandernde, der jeder gesellschaftlichen Form und Verpflichtung scheu oder trotzig aus dem Weg ging, der mehrfach unglücklich verliebte Desperado hatte nun Frieden mit sich und der Welt gefunden.

Nicht nur seine schwierige persönliche Lage bedrängte den jungen Keller. Im Alter von 24 Jahren (1843) sah er beunruhigt allenthalben in Europa politischen Streit mit ungewissem Ausgang:

ÜBERALL

Freiheit mit den schwarzen Augen,
Wachst du auf am Tiberstrande *)?
Freiheit mit den blauen Augen,
Schläfst du noch im deutschen Lande?
Kühne, trikolore **) Dirne,
Schürze wieder dich zum Tanze!
Weiße Schweizer-Gletscherfirne,
Röte dich im Morgenglanze!
Und du schlanke Nereide ***),
Tauch‘ aus deinen blauen Wogen!
Hat dich nicht dein falscher Friede,
Arme Hellas ****), arg betrogen?
Du dann mit dem Todesmute
Und gebrochnem Schwunggefieder:
Weißer Aar im roten Blute *****),
Rausche wieder, steige wieder!

Hebt den Schild, ihr Schutzpatrone
Aller Völker, auf zum Streite!
Flechtet eine Siegeskrone,
Die sich über alle breite!
Streifet ab die alten Sünden,
Denn geläutert und gereinigt
Sollt ihr euch zum Feste finden,
Das nur Würdige vereinigt!

*) Italien
**) Frankreichs dreifarbige Flagge
***) Tochter des griechischen Meergottes Nereus   ****) Einwirken der europäischen Mächte auf Griechenland nach seinem Unabhängigkeitskrieg  gegen das osmanische Reich  (“Hellas“ ist grammatisch eigentlich weiblich)
*****) Der Freiheitskampf Polens (Nationalflagge: weißer Adler auf rotem Grund) 

Auch in diesem politischen Panorama seiner Zeit ist Keller mit den Augen dabei. In den beiden ersten Strophen nennt fast jeder Vers eine Farbe.

Tegeler SchlossWie sehr Keller sich in jungen Jahren, besonders in der für ihn schwierigen Zeit in Berlin (1850-55), nach Ruhe und Geborgenheit sehnte, zeigt ein Gedicht von 1852 auf das prächtige Haus der Familie von Humboldt am Tegeler See bei Berlin. Dort heißt es gegen Ende, nach andächtiger Beschreibung des Inneren der Villa und des Parks:

 

 

 

[…] Lass hinter dir, was trüb und wild,
Der du dies Haus betreten,
Denn zu der Hoffnung reinem Bild
Darfst du gefasst hier beten. […]
[…] Fühlst nach der Heimat du das Weh,
O Fremdling, dich durchschauern,
Land an dem nord’schen Geistersee,
Hier ist es schön zu trauern! […]

Dass das Anschauen und Wiedergeben des Geschauten sein eigentliches Talent waren, auch immer wieder sein Trost, dessen war sich Keller schon früh gewiss. Nimmt man seine Liebe zur Natur hinzu, wie sie sich im “Abendlied“ ausdrückt, dann versteht man seine jugendliche Entschlossenheit, Landschaftsmaler zu werden. Seine Augen!

Einen weiteren Grundzug seines Wesens kann Keller im künstlerischen Schaffen freilich erst als Schriftsteller wirken lassen: seinen gutmütigen Humor. Der und seine (hier amüsierte) “Schaulust“ verbinden sich z.B. auf diese hübsche Weise:

BERLINER PFINGSTEN

Heute sah ich ein Gesicht *),
Wonnevoll zu deuten:
In dem frühen Pfingstenlicht
Und beim Glockenläuten
Schritten Weiber drei einher,
Feierlich im Gange,
Wäscherinnen, fest und schwer!
Jede trug ’ne Stange.
Mädchensommerkleider drei
Flaggten von den Stangen;
Schönre Fahnen, stolz und frei,
Als je Krieger schwangen,
Blau und weiß und rot gestreift,
Wunderbar beflügelt,
Frisch gewaschen und gesteift,
Tadellos gebügelt.

Lustig blies der Wind, der Schuft,
Lenden auf und Büste,
Und von frischer Morgenluft
Blähten sich die Brüste!
Und ich sang, als ich gesehn
Ferne sie entschweben:
Auf und lasst die Fahnen wehn,
Schön ist doch das Leben!

*) Anblick

Nicht immer optisch verzückt, wohl aber humorvoll-anekdotisch wirft Keller in den Gedichten, noch häufiger in seinen Prosa-Erzählungen, gern einen verständnisvollen “Blick“ auf menschliche Widersprüchlichkeit und Schwäche.

 EHESCHEIDUNG (AMERIKANISCH)

Zum Pfäffel kam ein Pärchen und schrie:
„Geschwind und lasst uns frein!
Wir können keinen einzigen Tag
Mehr ohne einander sein!“

Und aber ein Jährlein kaum verstrich,
Sie liefen herbei und schrien:
„Herr Pfarrer, trennt und scheidet uns,
lasst keine Stunde fliehn!“

Das Pfäfflein runzelte sich und sprach:
„Macht euch die Scham nicht rot?
Wir haben es alle drei gelobt,
Euch trenne nur der Tod!“ „Rot macht die Scham, doch Reue blass!
Herr Pfarrer, gebt uns frei!“
Der Mann bot einen Dollar dar,
Die Frau der Dollars zwei.

Da tat das Pfäffel zwischen sie
Ein Kätzlein, heil und ganz;
Der Mann der hielt es bei dem Kopf,
Die Frau hielt es am Schwanz.

Mit seinem Küchenmesser schnitt
Der Pfarr‘ die Katz‘ entzwei:
„Es trennt, es trennt, es trennt der Tod!“
Da waren sie wieder frei.

Möchte er durch den Untertitel “Amerikanisch“ einem offenbar schon im 19. Jahrhundert bestehenden Klischee gerecht werden? Oder will er, ironisch, der Episode etwas exotisch Verfremdetes geben – sprich: So etwas gibt’s doch in der guten “alten Welt“ nicht. Oder?

Auch das folgende Gedicht ist – ohne versteckten Hintersinn – eine Beobachtung des schlichten menschlichen Alltags. Den hat Keller seiner dichterischen Darstellung immer für würdig erachtet:

Röschen biss den Apfel an,
Und zu ihrem Schrecken
Brach und blieb ein Perlenzahn
In dem Butzen stecken.
Und das gute Kind vergaß
Seine Morgenlieder;
Thränen ohne Unterlass
Perlten nun hernieder.

Geradezu sarkastisch wird Keller in den ersten acht Versen seiner Gedichtegruppe “Dichtung und Wahrheit“ (keinesfalls zufällig betitelt wie Goethes Autobiographie). Der angeblich allem weltlich Gemeinen entrückte Schöpfer der “Dichtung“ wird bei der “Wahrheit“ ertappt,  sozusagen auf frischer Tat –  Gottfried Keller: Gedichte

Den Dichter seht, der immerdar erzählt von Lerchensang,
Wie er nun bald ein Dutzend schon gebratner Lerchen schlang!
Bei Sonnenaufgang, als der Tag in Blau und Gold erglüht‘,
Da war es, dass sein Morgenlied vom Lob der Lerchen klang;
Und nun bei Sonnenuntergang mit seinem Gabelspieß
Er sehnend in die Liederbrust gebratner Lerchen drang!
Das heiss‘ ich die Natur verstehn, allseitig tief und kühn,
Wenn also auf und nieder sich sein Tag mit Lerchen schwang!

 

Mit milder Ironie, mit Verständnis für die politische Naivität der Menschen schildert er deren Optimismus – und bemüht dazu wiederum allerlei Bilder aus der Natur. Der Wechsel des Wetters z.B. steht für den des politischen Geschehens:

DIE THRONFOLGER *)

Hoffnungsblumen, Morgenröten,
Die am dunkeln Himmel blühn!
Und das Volk in seinen Nöten
Schaut erwartungsvoll das Glühn,
Harrt in Demut auf die Sonne,
Die da auferstehen soll,
Und von bessrer Zeiten Wonne
Wird sein leerer Becher voll.

Horch! Was flüstern diese Massen,
Und was reitet vom Palast
Schwarz ein Herold durch die Gassen,
Rufend mit gedämpfter Hast?
Hört! Der König ist gestorben,
Tot der alte Eigensinn!
Hat der Sohn das Reich erworben,
Ist auch unsre Not dahin! Bald verhallt der dumpfe Klang von
Trauerglocken weit herum;
Festdrommeten **) harren lang schon
Und das treue Publikum:
Heil dem Prinz, der sich gebildet
Lang mit Männern, weis‘ und alt!
Heil uns selbst, wir sind geschildet ***)
Gegen Willkür und Gewalt!

Morgenjubel ist verklungen,
Wetter hielt sich leidlich gut,
Und die Alten nebst den Jungen
Schlendern heimwärts wohlgemut.
Sieh, da tröpfelt’s auf die Nase –
Spute sich, wer laufen mag!
Und dem kurzen Morgenspasse
Folgt ein langer Regentag.

 

*) Es geht um “die“ Thronfolger an sich. Niemand braucht also im Geschichtsbuch nach einer bestimmten historischen Thronfolge zu suchen.
**) Trompeten
***) (mit einem Schild) geschützt

Am Schluss stehe eine von Kellers schönsten Liebeserklärungen an die Natur, 1846 veröffentlicht (und sicher damals gerade erst entstanden), also in der schwierigen Phase seines Lebens. Die ihm alles bedeutende Natur und seine Liebe zu ihr werden gerade dadurch deutlich, dass er sie im zweiten Vers der letzten Strophe seine Zuflucht in schwerer Zeit nennt.

ABENDLIED AN DIE NATUR

Hüll‘ ein mich in die grünen Decken,
Mit deinem Säuseln sing mich ein,
Bei guter Zeit magst du mich wecken
Mit deines Tages jungem Schein!
Ich hab mich müd in dir ergangen,
Mein Aug‘ ist matt von deiner Pracht.
Nun ist mein einziges Verlangen,
Im 
Traum zu ruhn, in deiner Nacht.

Des Kinderauges freudig Leuchten
Schon fingest du mit Blumen ein,
Und wollte junger Gram es feuchten,
Du scheuchtest ihn mit buntem Schein.
Ob wildes Hassen, masslos Lieben
Mich zeither auch gefangen nahm:
Doch immer bin ich Kind geblieben,
Wenn ich zu dir ins Freie kam! Geliebte, die mit ew’ger Treue
Und ew’ger Jugend mich erquickt,
Du einz’ge Lust, die ohne Reue
Und ohne Nachweh mich entzückt –
Sollt‘ ich dir jemals untreu werden,
Dich kalt vergessen, ohne Dank,
Dann ist mein Fall genaht auf Erden,
Mein Herz verdorben oder krank!

O steh‘ mir immerdar im Rücken,
Lieg‘ ich im Feld *) mit meiner Zeit!
Mit deinen warmen Mutterblicken
Ruh‘ auf mir auch im schärfsten Streit‘
Und sollte mich das Ende finden,
Schnell decke mich mit Rasen zu;
O selig Sterben und Verschwinden
In deiner stillen Herbergsruh!

*) Kampf (Feldschlacht)