Haus der deutschen Sprache
Gedicht des Monats

Gedicht des Monats März 2012

Vorstadtstraßen, Erich Kästner (1932)

Text siehe z.B. Buchhandel oder Bibliothek

EK Signatur

Erich Kästner (1899-1974)

Dieses Gedicht, das 1932 in dem Band „Gesang zwischen den Stühlen“ erschien, malt ein zeitgetreues und realistisches Bild einer Vorstadtstraße in Deutschland.

Das lyrische Ich wandelt durch eine triste Straße, die von alten Häusern gesäumt ist. Die Häuser wirken leblos durch die heruntergekommenen Jalousien und die längst verwelkten Blumen an den Balkonen.

Menschen begegnet man auf dieser Straße nicht, man hört jedoch jemanden Geige spielen, in der Ferne einen Streit und es lässt sich erahnen, dass in den kargen Häusern wohl Menschen beisammen sitzen.

Dieses Gedicht drückt eine beklemmende Regelmäßigkeit der Tristesse aus: „Die Häuser bilden Tag und Nacht Spalier“ und die Nacht fällt am Ende eines Tages „wie ein großes altes Tuch“ auf die Stadt. Die gesamte Erscheinung der Straße wirkt monoton und unlebendig, da sie anfängt, wie sie auch endet. Diese Regelmäßigkeit offenbart sich auch in der durchgängigen Verwendung des Kreuzreims und des Jambus in allen sieben Strophen, sowie dem konstanten Wechsel von männlicher und weiblicher Kadenz.

Auch wenn man auf dieser Vorstadtstraße nicht direkt Menschen trifft, verrät sie doch sehr viel über die Bewohner der Häuser.

Der Schriftzug „Trinkt Magermilch“ verweist auf die Zwangsrationalisierung von Lebensmitteln nach dem ersten Weltkrieg. In dieser Zeit zeichnen sich die Häuser als Metapher für ihre Bewohner durch Armut, Trauer und Krankheit aus. Diese Merkmale personifizieren sich in einem Mann, der auf seiner Geige spielt. Er geigt „mit Sorgen“ und seine Geige ist durch mehrere Hände bereits gegangen und keineswegs ein neuwertiges Instrument.

Eine inhaltliche und formale Rahmung erhält dieses Gedicht zum einen durch den Verweis auf die Allgemeinheit dieser dargestellten Situation und die Wiederholung der Aufforderung „Trinkt Magermilch!“.

In dem ersten Vers wird der Leser darauf verwiesen, dass diese Vorstadtstraße und ihr unlebendiger Eindruck keine Seltenheit, sondern „gut bekannt“ sind. In der vorletzten Strophe wird dieser Hinweis erneut in expliziter Form aufgenommen: „So sieht die Welt in tausend Städten aus“.

Charakteristisch für dieses Werk von Erich Kästner ist der in der ersten und letzten Strophe wiedergegebene Ausruf Magermilch zu trinken, der deutlich die Anforderungen an die Menschen in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg hervorhebt. In dem Bild der Magermilch sammeln sich die dargestellte Armut und die damit verbundene Trauer und Unzufriedenheit der Menschen. Dieser Zustand wird zwar von der Dunkelheit der hereinbrechenden Nacht etwas verschleiert, bleibt jedoch – wie der Schriftzug an der Wand – bestehen.

Dass Erich Kästner die Armut als Folge des Krieges und die damit verbundenen Missstände in einer schnörkellosen Sprache darstellt, ist charakteristisch für die Epoche der neuen Sachlichkeit.

In dieser Epoche grenzt sich die Literatur der Weimarer Republik vom Expressionismus ab. Es wird eine Wende von innerlichen Wahrnehmungen hin zur derzeitigen Gesellschaft und ihren Problemen vollzogen.

Die Nachwirkungen des ersten Weltkrieges und die Inflation werden ein beliebtes Motiv, das sprachlich kühl und distanziert dargestellt wird. Mit Alltagssprache und einem dokumentarisch-exaktem Stil soll durch ein Minimum an Sprache ein Maximum an Bedeutung transportiert werden.

Durch diese Verschriftlichung und der Thematik entwickelt sich unter anderem die Gattung der Gebrauchslyrik. Zu dieser literarischen Gattung, deren Begriff Brecht prägte und die sich durch die Absicht auszeichnet, auf Menschen durch Thematisierung der Probleme und Missstände zu wirken, lässt sich auch Kästners „Vorstadtstraßen“ fassen.

Erich Kaestner (EK-Passage, Dresden)
Porträt, Erich-Kästner-Passage, Dresden

Erich Kästner wird am 23.02.1899 in Dresden geboren. Als Sohn einer Friseurin und eines Sattelmeisters wächst er behütet auf. Er besucht die Volksschule und später das Fletscher´sche Lehrer-Seminar als günstige Alternative zum Gymnasium.

Im ersten Weltkrieg dient Erich Kästner als Soldat, muss aber auf Grund eines Herzleidens 1918 den Heeresdienst verlassen. Ein Jahr später besteht er das Kriegsabitur mit Auszeichnung und studiert unterstützt mit dem Goldenen Stipendium der Stadt Dresden Germanistik, Philosophie, Geschichte und Theatergeschichte. 1925 erfolgt seine Promotion zum Doktor der Philosophie.

Seine ersten Gedichte veröffentlicht Erich Kästner in der Schülerzeitung des König-Georg-Gymnasiums, seine ersten Bände erscheinen ab 1928.

Unter dem NS-Regime werden viele von Kästners Arbeiten, in denen er sich gegen Militarismus und Faschismus wendet, verboten und fallen der Bücherverbrennung zum Opfer. Mehrfach wird er verhaftet und erhält schließlich ein totales Schreibverbot.

Neben seiner Mitarbeit beim Kabarett in München und der Zeitschrift „Pinguin. Für junge Leute“, arbeitet er bei der internationalen Schriftstellervereinigung, dem PEN-Zentrum, für das er 1951-1962 auch als Präsident tätig ist.

Erich Kästner erhält für seine Werke unter anderem den Georg-Büchner-Preis, das Bundesverdienstkreuz und den kulturellen Ehrenpreis der Stadt München.

Von 1945 an lebt er in der bayrischen Landeshauptstadt und stirbt dort 1974.

Bekannt ist er neben seinen lyrischen Werken vor allem durch seine Kinderromane „Pünktchen und Anton“ (1931), „Das fliegende Klassenzimmer“ (1933) und „Emil und die Detektive“ (1929) geworden. Diese wurden verfilmt und in bis zu 24 andere Sprachen übersetzt.

Dresden, Erich-Kästner-Denkmal
Dresden, Albertplatz, Erich-Kästner-Denkmal von Eike Kuntsche

Bildquellen: Wikipedia-Artikel und -Mediensammlung zu Erich Kästner
(EK-Denkmal von X-Weinzar, Kästner-Passage von Paulae, beide cc-Lizenz; EK-Signatur)