Haus der deutschen Sprache
Gedicht des Monats

Gedicht des Monats August 2014

Augen in der Großstadt
von Kurt Tucholsky

Wenn du zur Arbeit gehst
am frühen Morgen,
wenn du am Bahnhof stehst
mit deinen Sorgen:
dann zeigt die Stadt
dir asphaltglatt
im Menschentrichter
Millionen Gesichter:
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider –
Was war das? Vielleicht dein Lebensglück…
vorbei, verweht, nie wieder.

Du gehst dein Leben lang
auf tausend Straßen;
du siehst auf deinem Gang,
die dich vergaßen.
Ein Auge winkt,
die Seele klingt;
du hast’s gefunden,
nur für Sekunden…
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider –
Was war das? Kein Mensch dreht die Zeit zurück…
vorbei, verweht, nie wieder.

Du mußt auf deinem Gang
durch Städte wandern;
siehst einen Pulsschlag lang
den fremden Andern.
Es kann ein Feind sein,
es kann ein Freund sein,
es kann im Kampfe dein
Genosse sein.
Es sieht hinüber
und zieht vorüber…
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider –
Was war das? Von der großen Menschheit ein Stück!
Vorbei, verweht, nie wieder.

„Augen in der Großstadt“ von Kurt Tucholsky zeichnet in drei Strophen mit zwölf bzw. 14 Versen ein Bild von einer Großstadt und ihrer Monotonie. Der monotone Gang durch die graue Stadt ist Bestandteil jeder Strophe („Gang“ II,3; III,1; „gehst“ I,1; II,1). Der Einzelne muss wandern (III, 1f) und so gibt es keine Alternative als sich der grauen Menschenmasse anzupassen und dem Strom zu folgen. Die direkte Anrede „du“ verdeutlicht, dass jeder davon betroffen ist. Die Menschenmasse schweigt, man spricht nicht einander an, tauscht sich nicht aus. In diesem einseitigen Treiben entstehen kurze Augenblicke, in denen ein Mensch mit seinem Blick sich hervorhebt. Dieser Blick unterbricht die Monotonie und wirft die Frage „Was war das?“ (I,11; II,11; III,13) auf. Doch der Moment geht zu schnell vorbei und so bleibt die Ungewissheit, ob dieser Augenblick eine Gelegenheit gewesen war, die man hätte ergreifen sollen, um einen Menschen kennenzulernen. Zeit und Menschen strömen weiter und der Blick wird zu einem unter vielen („Vorbei, verweht, nie wieder“ I,12; II,12; III,14) und das Gegenüber, das aus der Masse für einen kurzen Moment herausstach, bleibt ein anonymes Neutrum („das“ I,11; II,11; III, 13). Auf lautmalerische Weise treten in der zweiten Strophe die Verse fünf bis acht hervor. Die Freude über die besondere Begegnung bringt die Seele zum Klingen und die auffälligen I-Laute im Endreim unterstreichen diesen Moment in der Tristesse. Doch in den darauffolgenden Versen gewinnt die Routine wieder Oberhand und auch auf lautlicher Ebene werden die fröhlichen I-Laute von tiefen U-Lauten verdrängt. Die Gleichheit und Wiederholungen des Alltags finden ebenso in der formalen Gestaltung des Gedichtes Niederschlag. Die ersten beiden Strophen bestehen aus zwölf Versen, jeweils als Kreuzreim, zwei Paarreimen und einem Kreuzreim. Die dritte Strophe umfasst 14 Verse, die sich als Kreuzreim, drei Paarreime und ein Kreuzreim anordnen. Allen drei Strophen gemein sind drei Verse: „Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick, / die Braue, Pupillen, die Lider – / Was war das? (…) / Vorbei, verweht, nie wieder.“ Wobei der letzte Vers jeweils eine Änderung enthält. In diesen Variationen wird deutlich, dass sich die Begegnung von der Hoffnung auf ein „Lebensglück“ (I,11) über die Erkenntnis, dass der Moment vergangen ist (II,11), wieder zu der Monotonie und der anonymen Masse wendet und der Mensch nur „Von der großen Menschheit ein Stück“ (III,14) bleibt. Es bleibt ein trister Kreislauf.

Kurt Tucholsky wird am 9. Januar 1890 als erster Sohn des jüdischen Bankkaufmann Alex Tucholsky und seiner Cousine Doris Tucholsky in Berlin geboren. Neben den Geschwistern Fritz und Ellen hat Kurt ein sehr gutes Verhältnis zu seinem Vater, der bereits 1905 stirbt. Die Beziehung zu seiner Mutter ist getrübt.

Im Alter von neun Jahren wird Kurt an dem Französischen Gymnasium in Berlin eingeschult und wechselt vier Jahre später auf das Königliche Wilhelm-Gymnasium. Nachdem er sich mit einem Privatlehrer auf das Abitur vorbereitet und dies ablegt, beginnt er ohne finanzielle Sorgen durch das Vermögen seines Vaters das Jurastudium. Bereits während seines Studiums interessiert sich Tucholsky sehr für Literatur und arbeitet journalistisch für das sozialdemokratische Parteiorgan „Vorwärts“. 1912 veröffentlicht er „Rheinsberg: Ein Bilderbuch für Verliebte“, welches ihn einem größeren Publikum bekannt macht. Im Jahr darauf verzichtet Tucholsky, seine erste juristische Staatsprüfung abzulegen und promoviert schließlich 1914, um doch noch einen Studienabschluss zu erlangen. Mit dem Verzicht auf die Staatsprüfung wird sein literarisches Schaffen aktiver und er veröffentlicht fortan in jeder Ausgabe der linksliberalen Theaterzeitschrift „Die Schaubühne“, später in „Die Weltbühne“ umbenannt, zwei bis drei Artikel.
Seine Karriere wird durch den ersten Weltkrieg unterbrochen. Kurt Tucholsky ist kein Patriot. Eine Position als Schreiber und Redakteur der Feldzeitung hilft ihm, den Dienst im Schützengraben zu umgehen. In dieser Zeit lernt er auch seine spätere zweite Frau Mary Gerold kennen.

1918 wird er nach Rumänien versetzt, wo er sich protestantisch taufen lässt, nachdem er bereits 1914 aus der jüdischen Kirche ausgetreten ist. Im dem selben Jahr kehrt er aus dem Krieg als überzeugter Antimilitarist und Pazifist zurück und übernimmt den Posten des Chefredakteurs der „Ulk“. Tucholsky schreibt unter den Pseudonymen Ignanz Wrobel, Theobald Tiger, Peter Panter und Kaspar Hauser.

In der Hochphase der Inflation stellt er seine publizistische Arbeit zurück und wird in der Wirtschaft tätig, bis er 1922 eine schwere Depression erleidet. Zwei Jahre später lässt Tucholsky sich von seiner Frau Else Weil nach vier Jahren Ehe scheiden und heiratet Mary Gerold. Ihre Ehe scheitert ebenfalls.

Mit dem Tod Siegfried Jacobsohns 1926 übernimmt er die Leitung der „Weltbühne“. Als ihm klar wird, dass er für diese Tätigkeit nach Berlin zurückgehen müsse, tritt er die Leitung an Carl von Ossietzky ab. Ab 1930 lebt Tucholsky dauerhaft im schwedischen Hindås.
Seine publizistische Arbeit verstummt zunehmend mit Ende seiner Beziehung zu Lisa Matthias. Sein letzter Beitrag erscheint am 08. November 1932 in der „Weltbühne“. Im Jahr darauf wird die „Weltbühne“ von den Nationalsozialisten verboten, Tucholskys Bücher verbrannt und ihm die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt. Bereits vor den 1930er Jahren hatte er in Hitler eine aufziehende Gefahr erkannt, doch seine Warnungen wurden nicht gehört. An der Exilpresse beteiligt er sich nicht, da er sich nicht als Emigrant versteht und die schwedische Staatsangehörigkeit anstrebt. Trotzdem nimmt er Anteil an den Entwicklungen in Deutschland und Europa.

Nach länger andauernden Magenleiden stirbt Kurt Tucholsky am 20. Dezember 1935 in seinem Haus in Hindås. Ob es ein Selbstmord oder eine versehentliche Überdosierung seiner Medikamente war, bleibt unklar. Im darauffolgenden Sommer wird seine Asche unter einer Eiche nahe Schloss Gripsholm beigesetzt.

TucholskyParis1928
Tucholsky Paris 1928 (Wikipedia)
Die Aufnahme wurde von Sonja Thomassen, in Norwegen lebende Tochter von Lisa Matthias, zur Veröffentlichung unter GNU-FDL freigegeben.