Haus der deutschen Sprache
Deutsch - gestern und heute

„Stiefmuttersprache“

Von Botschaftsrätin Hildegard Dunkl

Schweizer FlaggeSchweizerdeutsch,  auch Schwyzerdüütsch
Ist die gesprochene, nicht die geschriebene Muttersprache von bald zwei Dritteln der über sieben Millionen Schweizerinnen und Schweizer. – Es ist die Sammelbezeichnung für die zum Alemannischen gehörenden Dialekte auf dem Gebiet der Schweiz. Sprachgeographisch ist es nicht zu trennen von den alemannischen Dialekten in Deutschland, Liechtenstein, Österreich und im Elsass, jedoch aufgrund des verbreiteten Dialektgebrauchs in der Schweiz in nahezu allen Sprechsituationen und als Zeichen der nationalen Abgrenzung als eigenständige Einheit empfunden und benannt. (Nach: Metzler Lexikon Sprache)

„Lecker!“ ich kann mich noch gut erinnern, wie ich dafür von meinem Vater eine Kopfnuss einfing. Obwohl wir zuhause nicht wirklich oberpfälzer Mundart sprachen, sondern ‚Hochdeutsch weiß-blau‘: dieses norddeutsche Adjektiv, das ich bei einem neuen Klassenkameraden aus dem Ruhrpott aufgeschnappt hatte, ging gar nicht. Nicht für den bayrischen Schweinsbraten meiner Mutter am Sonntag und überhaupt nicht.

Gut 45 Jahre später mein Vater wäre nun vermutlich froh über einen leckeren Braten, Hauptsache nicht cool und krass fett – hat mich das Störpotenzial dieses Worts wieder eingeholt, auf meinem neuen Posten [an der deutschen Botschaft] in der Schweiz. Hier sorgt gerade eine Zuwanderungswelle aus Deutschland für Diskussionen in Medien und Öffentlichkeit über die Frage „Wieviel Deutsche verträgt die Schweiz?“ und über die weniger angenehmen Eigenschaften der Nachbarn aus dem ‚großen Kanton’. Zu letzteren gehört laut Umfragen vor allem ihre Arroganz.

Und für diesen Eindruck ist nach Meinung vieler Kommentatoren mitverantwortlich,
dass die Deutschen deutsch sprechen, und zwar schnell und flüssig, und sich darin den Schweizern überlegen zeigen. Denn die Schweizer sprechen kaum noch hochdeutsch, wie der Schweizer Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Adolf Muschg 2006 beim Deutschen Historikertag in Konstanz in seinem Vortrag „Wie deutsch ist die Schweiz?“ feststellte. Es gebe zudem nicht wenige unschuldige deutsche Wörter, die im deutschschweizerischen Ohr eine ähnliche Allergie auslösten, wie ehedem die ‚Sättigungsbeilage’ im Westdeutschen – zum Beispiel: ‚lecker’.

Der Deutschschweizer steht der gesprochenen Hochsprache – im Gegensatz zur ihrer schriftlichen Form, die ganz selbstverständlich gelesen und geschrieben wird – im allgemeinen abgeneigt bis abwehrend gegenüber. Hochdeutsch ist gefühlt die Sprache der Schule und die Sprache der Deutschen, und von beiden bezieht es keine Sympathiepunkte. Auch gebildete Deutschschweizer beherrschen es vor allem in seiner schriftlichen und formalen mündlichen Form.

Umgangssprache ist – anders als in Deutschland – fast ausschließlich der Dialekt. Mit der hochdeutschen Umgangssprache fehlt daher die Übung. Die Antipathie gegen das Sprechen auf  „Schriftdeutsch“, wie es denn auch meistens genannt wird, geht so weit, dass man mit Anderssprachigen, Landsleuten oder Ausländern, lieber schlecht Französisch oder Englisch redet, auch wenn diese gut Deutsch können. Dem als „Mundartwelle“ seit längerem zu beobachtenden Trend zum Schweizer Dialekt als vorherrschendem Kommunikationsmittel auch in Medien, Musik, Werbung und Internetforen stehen mittlerweile wieder gegenläufige Bemühungen um die Pflege des „Standarddeutschen“ gegenüber, ausgelöst 2001 durch die PISA-Studie, die den Schweizer Kindern im Lesetest ein schlechtes Zeugnis ausstellte. Mangelnde Sprachkompetenz ist seither ein ernstes Thema der Schweizer Bildungspolitik.

Die Erziehungsdirektorenkonferenz beschloss 2003 in ihrem PISA-Aktionsprogramm, dass die Standardsprache – die auch vorher schon offiziell Unterrichtssprache war – auf sämtlichen Schulstufen und in allen Fächern auch konsequent anzuwenden sei, bis hin zum Pausenhof. Auch im Kindergarten wird ihre Verwendung zunehmend gefordert und gegen Widerstände durchgesetzt, um Freude am unbeschwerten Umgang mit Hochdeutsch zu vermitteln.

In jüngster Zeit wird auch in den Medien nicht nur immer wieder über Nutzen und Notwendigkeit einer vollständigen Beherrschung der „Stiefmuttersprache“ (Neue Zürcher Zeitung vom 16.1.07) Hochdeutsch diskutiert, es wird auch wieder mehr Hochdeutsch gesprochen: Seit dem 1. Mai 2007 bringt Schweizer Radio DRS zwei Informationssendungen ganz in Hochdeutsch, deren Korrespondentenberichte bisher in Mundart ausgestrahlt wurden. Damit wird in fast allen überregionalen Informationssendungen von DRS wieder Hochdeutsch gesprochen.

Mit diesen Entwicklungen wird auch Kritik aus den nicht-deutschsprachigen Landesteilen begegnet, die von der Dominanz der Mundart eine Schwächung der föderalen Kohäsion befürchtet (so die welsch-schweizer Zeitung Le Temps). Das Forum Helveticum, ein Diskussionsforum zu Fragen der Schweizer Gesellschaft, publizierte 2005 eine Studie „Dialekt in der (Deutsch)Schweiz – zwischen lokaler Identität und nationaler Kohäsion“ und befasste sich Ende 2006 in einer Tagung mit Aspekten des Dialekts in Schule und Medien.

Schweizer Flagge

Wichtige Ergebnisse waren: Hochdeutsch darf keine Fremdsprache mehr sein, aber bessere Hochdeutsch-Kompetenzen sollen auch nicht auf Kosten der Mundart erzielt werden. Man möchte zwei gleichwertige Sprachen besitzen und gleichermaßen beherrschen. Wenn die heutigen Vorschüler dereinst diesem Ideal entsprechen, können sie vielleicht auch mit deutschen Zuwanderern ein leckeres Chäsfóndue genießen, ohne dass ihnen die Begleitkonversation sauer aufstößt.

Mit Genehmigung der Autorin, z.Z. Bern. Zuerst erschienen in „internAA“, der Mitarbeiterzeitung des Auswärtigen Amts in Berlin, 7/2007.