Haus der deutschen Sprache
Gedicht des Monats

Gedicht des Monats Mai 2009

In einem seiner Texte stellt sich der Autor des Gedichts des Monats Mai 2009 einer “schönen Unbekannten“ vor:

Ich bin etwas schief ins Leben gebaut.
[…]
Ich bin eine alte Kommode.
Oft mit Tinte oder Rotwein begossen;
Manchmal mit Fußtritten geschlossen.
Der wird kichern, der nach meinem Tode
Mein Geheimfach entdeckt. –
[…]

Den Namen des Dichters, Hans Gustav Bötticher, entdeckt man allerdings nicht im Literatur-Lexikon. “Bötticher“ kann man ja auch als Satiriker, Kabarettist und Lyriker auf Dauer nicht heißen. Ein griffiger, witziger “Markenname“ muss her und der bürgerliche weichen. Von 1919 an nennt sich der Dichter (1883-1934) Joachim Ringelnatz.Die Erklärung des Pseudonyms als Matrosen-Wort (für das glückbringende Seepferdchen) könnte stimmen. Schon als Junge hatte Ringelnatz sich in den Kopf gesetzt, Seemann zu werden. Nach einer wenig erfolgreichen Schulzeit heuert er 1901 als Schiffsjunge an und lernt die ganze Welt kennen. Deren Länder und Städte – von Köln bis Kalkutta – tauchen in seinen Gedichten allenthalben als Kulisse der Erinnerung auf.

Später schlägt er sich neben der Seefahrt mit Dutzenden von Gelegenheitsjobs durch. Von 1909 an findet man ihn regelmäßig in der Münchner Künstlerkneipe “Simplicissimus“, und bald kommt es zu ersten Veröffentlichungen.

Doch zunächst einmal das Gedicht des Monats:

Ringelnatz

Die Schnupftabaksdose

Es war eine Schnupftabaksdose,
Die hatte Friedrich der Große
Sich selbst geschnitzelt aus Nußbaumholz.
Und darauf war sie natürlich stolz.

Da kam ein Holzwurm gekrochen.
Der hatte Nußbaum gerochen.
Die Dose erzählte ihm lang und breit
Von Friedrich dem Großen und seiner Zeit.

Sie nannte den alten Fritz generös.
Da aber wurde der Holzwurm nervös
Und sagte, indem er zu bohren begann:
»Was geht mich Friedrich der Große an!«

Die “Schnupftabakdose“ hatte er 1912 noch unter seinem bürgerlichen Namen *) veröffentlicht.
Das Gedicht zeigt nicht nur eine humorvolle Gleichgültigkeit des Autors gegenüber preußischen Traditionen, sondern auch, dass Ringelnatz ein Philosoph der kleinen Dinge ist. Sie bekommen bei ihm Gesicht und Stimme (so etwa in der tragischen Geschichte vom unglücklich verliebten Briefmark, der – von einer Prinzessin beleckt – verschickt wird und nicht wiederkehrt). Auch seine Tiere können sprechen und handeln, so hier der Holzwurm oder an anderer Stelle seine bekannten Ameisen , die von Hamburg nach Australien reisen wollen, aber nur bis Altona kommen.

Es fällt nicht schwer, hinter den Tieren und den Dingen Ringelnatz‘ Mitmenschen und ihre Macken zu erkennen, die er, das kaum verschleiernd, mit augenzwinkernd moralischem Ton offenbart. “Humor ist der Knopf, der verhindert, dass uns der Kragen platzt.“ In seiner Lyrik verwirklicht der Dichter diese Einsicht aufs Trefflichste. Das gelingt ihm nicht nur in den frühen Gedichten, sondern auch in seinem gesamten späteren Werk, oft mithilfe von Wortspielen und einem ausgeprägten Hang zum Un- und Tiefsinn, oft zu beidem in einem.

Dabei scheut er auch nicht die direkte Anspielung auf die Großen der Zunft, wenn er etwa in Anlehnung an Goethes „Wandrers Nachtlied “ (II, 1780) in seinem “Abendgebet einer erkälteten Negerin“ reimt:

Drüben am Walde
Kängt ein Guruh – –

Warte nur balde
Kängurst auch Du.

Im Ersten Weltkrieg ist Ringelnatz bei der Marine. Er schildert diese Zeit später in dem autobiographischen Bericht “Als Mariner im Krieg“ (1928). Nach dem Krieg beginnt seine erfolgreiche Zeit als Kabarettist, Dichter und Maler; 1919 schreibt er erstmals unter dem Pseudonym Joachim Ringelnatz. 1920 heiratet er Leonharda Pieper, die er “Muschelkalk“ nannte.

Im Gedicht Ansprache eines Fremden an eine Geschminkte vor dem Wilberforcemonument erfährt man viel über Ringelnatz und darüber, was Muschelkalk ihm bedeutete:

Ich habe auch kein richtiges Herz.
Ich bin nur ein kleiner, unanständiger Schalk.
Mein richtiges Herz. Das ist anderwärts, irgendwo
Im Muschelkalk.

In einigen Gedichten nennt er seine Liebste einfach “Musch“. (Hatte nicht Heinrich Heine eine letzte Liebe mit “Mouche“ angeredet? Zu Heine siehe Gedicht des Monats Juni 2008)  Die mit Ringelnatz befreundete Künstlerin Renée Sintenis hat seine Grabesplatte auf dem Berliner Waldfriedhof „folgerichtig“ aus Muschelkalk geschnitten.         Ringelnatz' Grab

1920 erschafft er auch seine bekannteste literarische Figur: Kuttel Daddeldu.

Kuttel Daddeldu und die Kinder
Wie Daddeldu so durch die Welten schifft,
Geschieht es wohl, daß er hie und da
Eins oder das andre von seinen Kindern trifft,
Die begrüßen dann ihren Europapa:
“Gud morning! – Sdrastwuide! – Bong Jur, Daddeldü!
Bon tscherno! Ok phosphor! Tsching-tschung! Bablabü!“
Und Daddeldu dankt erstaunt und gerührt
Und senkt die Hand in die Hosentasche
Und schenkt ihnen, was er so bei sich führt,
– – Whiskyflasche,
Zündhölzer, Opium, türkischen Knaster,
Revolverpatronen und Schweinsbeulenpflaster,
Gibt jedem zwei Dollar und lächelt: “Ei, ei!“
Und nochmals: „Ei, Ei!“ – Und verschwindet dabei.Aber Kindern von deutschen und dänischen Witwen
Pflegt er sich intensiver zu widmen.
Die weiß er dann mit den seltensten Stücken
Aus allen Ländern der Welt zu beglücken.
Elefantenzähne – Kamerun,
Mit Kognak begoss’nes malaiisches Huhn,
Aus Friedrichroda ein Straußenei,
Aus Tibet einen Roman von Karl May,
Einen Eskimoschlips aus Giraffenhaar,
Auch ein Stückchen versteinertes Dromedar.

Und dann spielt der poltrige Daddeldu
Verstecken, Stierkampf und Blindekuh,
Markiert einen leprakranken Schimpansen,
Lehrt seine Kinderchen Bauchtanz tanzen
Und Schiffchen schnitzen und Tabak kauen.
Und manchmal, in Abwesenheit älterer Frauen,
Tätowiert er den strampelnden Kleinchen
Anker und Kreuze auf Ärmchen und Beinchen.

Später packt er sich sechs auf den Schoß
Und läßt sich nicht lange quälen,
Sondern legt los:
Grog saufen und dabei Märchen erzählen;
Von seinem Schiffbruch bei Helgoland,
Wo eine Woge ihn an den Strand
Auf eine Korallenspitze trieb,
Wo er dann händeringend hängenblieb.

Und hatte nichts zu fressen und saufen;
Nicht mal, wenn er gewollt hätte, einen Tropfen Trinkwasser,
/um seine Lippen zu benetzen,
Und kein Geld, keine Uhr zum Versetzen.
Außerdem war da gar nichts zu kaufen;
Denn dort gab’s nur Löwen mit Schlangenleiber,
Sonst weder keine Menschen als auch keine Weiber.
Und er hätte gerade so gern einmal wieder
Ein kerniges Hamburger Weibstück besucht.
Und da kniete Kuttel nach Osten zu nieder.
Und als er zum drittenmal rückwärts geflucht,
Da nahte sich plötzlich der Vogel Greif,
Und Daddeldu sagte: “Ei wont ä weif.“
Und der Vogel Greif trug ihn schnell
Bald in dies Bordell, bald in jenes Bordell
Und schenkte ihm Schlackwurst und Schnaps und so weiter. –
So erzählt Kuttel Daddeldu heiter, –
Märchen, die er ganz selber erfunden.
Und säuft. – Es verfließen die Stunden.
Die Kinder weinen. Die Märchen lallen.
Die Mutter ist längst untern Tisch gefallen,
Und Kuttel – bemüht, sie aufzuheben –
Hat sich schon zweimal dabei übergeben.
Und um die Ruhe nicht länger zu stören,
Verläßt er leise Mutter und Göhren.

Denkt aber noch tagelang hinter Sizilien
An die traulichen Stunden in seinen Familien.

Kaum eine Schöpfung ist Ringelnatz so eng verhaftet wie der Seemann Kuttel Daddeldu, der ihm von 1920 an erste sichtbare literarische Erfolge einbringt (geboren wird er im Gedicht “Vom Seemann Kuttel Daddeldu“). Der gutmütige Matrose mit dem kernigen, nicht immer ganz “jugendfreien“ Humor wird zu einer Art Markenzeichen des Autors. Durch diese enge Bindung von Autor und Figur gehört der kauzige Matrose somit in eine Reihe mit Wilhelm Buschs “Frommer[r] Helene“ und Christian Morgensterns “Palmström“. (Zu Busch und Morgenstern siehe Gedicht des Monats September 2008 und Februar 2009)

Nicht nur mit Gedrucktem, sondern vor allem im direkten Vortrag bei kabarettistischen Auftritten begeistert der Seemann das Publikum. Der muntere Ton der Gedichte, verbunden mit der einfachen Sprache und einem Humor, der aus dem Leben gegriffen und nicht elitär oder intellektuell überhöht ist, verleihen der Figur und ihren Geschichten Authentizität. (Der Vers-Takt darf da ruhig ein wenig holprig sein – wie die Wirklichkeit.) Ringelnatz als Kuttel Daddeldu

Ringelnatz als Kuttel Daddeldu So erwacht Kuttel Daddeldu quasi zum Leben, wenn Ringelnatz die balladesken Gedichte auf der Bühne zum Besten gibt. Da erzählt der knurrige, aber herzensgute Matrose Kindern in der Heimat wie in obigem Gedicht wilde Geschichten aus der weiten Welt. Der Sold von Monaten wird in Hafenkneipen und -bordellen durchgebracht, turbulent Weihnachten gefeiert. Und auch das Hinterland ist nicht vor ihm sicher.

Wieviel von Ringelnatz selbst in Kuttel Daddeldu steckt, ist nach wie vor umstritten, doch fällt es nicht schwer, Parallelen zwischen den beiden zu sehen – sei es das Seefahrertum, sei es ihr Humor. Und auch wie Kuttel Daddeldu im oben stehenden Gedicht mit Kindern spielt und diese unterhält, lässt an den Autor selbst denken: Der österreichische Schriftsteller und Kritiker Alfred Polgar bescheinigte Ringelnatz ein “Kinderherz“, und tatsächlich konnte dieser auch im Erwachsenenalter noch Kind sein – Kind unter Erwachsenen, noch lieber jedoch Kind unter Kindern. Denen öffnete er sich wesentlich schneller als Erwachsenen.

Illustriert sei dies auch durch folgende Anekdote. Zu Besuch bei einem Freund fragt er dessen daumenlutschende Tochter: “Wenn das der Weihnachtsmann sieht! Was glaubst Du, was der tut?“ (vor dem Fenster ging gerade ein Weihnachtsmann vorbei). Noch bevor das Kind in Tränen ausbrechen kann, löst er die Spannung und ruft: “Was der tut? Der lutscht mit!“, worauf Freude und Gelächter groß sind.

Ringelnatz widmete mehrere seiner Gedichtbände ausdrücklich den Kindern, darunter vor allem “Geheimes Kinder-Spiel-Buch mit vielen Bildern“ (1924) und “Geheimes Kinder-Verwirr-Buch mit vielen Bildern“ (1931). Letzteres hat stark subversive (wenn auch stets augenzwinkernde) Momente:

Kinder, ihr müßt euch mehr zutrauen!
Ihr laßt euch von Erwachsenen belügen
Und schlagen. – Denkt mal: Fünf Kinder genügen,
Um eine Großmama zu verhauen.“

Dem erstgenannten dieser Kinderbücher wurde von der Obrigkeit aus zeitweise der Vermerk auferlegt, dass es nur für Erwachsene sei, da Ringelnatz darin in kindlichen Versen, die zwischen Ironie und Anarchie changieren, Spiele erklärt, die in allerlei (teils grobem) Unfug enden. Daneben finden sich aber auch Gedichte, die Bekanntes spielerisch verdrehen:

Volkslied
Wenn ich zwei Vöglein wär
Und auch vier Flügel hätt,
Flög die eine Hälfte zu dir.
Und die andere, die ging auch zu Bett,
Aber hier zu Haus bei mir.

Wenn ich einen Flügel hätt
Und gar kein Vöglein wär,
Verkaufte ich ihn dir
Und kaufte mir dafür ein Klavier.

Wenn ich kein Flügel wär
(Linker Flügel beim Militär)
Und auch keinen Vogel hätt,
Flög ich zu dir.
Da’s aber nicht kann sein,
Bleib ich im eignen Bett
Allein zu zwein.

Aber Ringelnatz verfasst nicht nur humoristisch-satirische Gedichte, sondern schlägt, vor allem in seinen letzten Lebensjahren, auch ernstere und leisere Töne an. Neben die heiteren Verse tritt Ermahnungs- und Gewissenslyrik, die sich offener und direkter mit den – auch politischen – Problemen der Zeit auseinandersetzt, die nicht mehr so spielerisch-leicht ist wie sein früheres Werk. Gesammelt findet sie sich in dem Band “Gedichte dreier Jahre“ (1932), darin auch eines seiner heute bekanntesten Gedichte: “Und auf einmal steht es neben Dir“.

Und auf einmal steht es neben Dir
Und auf einmal merkst du äußerlich:
Wieviel Kummer zu dir kam,
Wieviel Freundschaft leise von dir wich,
Alles Lachen von dir nahm.

Fragst verwundert in die Tage.
Doch die Tage hallen leer.
Dann verkümmert Deine Klage …
Du fragst niemanden mehr. Lernst es endlich, dich zu fügen,
Von den Sorgen gezähmt.
Willst dich selber nicht belügen
Und erstickst, was dich grämt.

Sinnlos, arm erscheint das Leben dir,
Längst zu lang ausgedehnt. – –
Und auf einmal – –: Steht es neben dir,
An dich angelehnt – –
Was?
Das, was du so lang ersehnt.

Ringelnatz-Biograph Herbert Günther sieht hier trotz des versöhnlichen Endes Todessehnsucht, und tatsächlich fügen sich der abrechnende Ton sowie der Abschied von Hoffnungen und Träumen gut in die übrigen Texte der Sammlung. Sie setzen sich häufig mit dem Tod und dem Gedenken an verstorbene Verwandte und Freunde auseinander.**)

Kurz nachdem die Sammlung “Gedichte dreier Jahre“ erschienen ist, wendet sich das Schicksal für Ringelnatz in vieler Hinsicht zum Schlechten. 1933 ergreifen die Nationalsozialisten die Macht (“Hitler ist natürlich ein Unstern für uns.“), und bald wird klar, dass Ringelnatz wie so viele Künstler im NS-Staat nicht erwünscht ist. Er hatte bereits 1919/20 Turngedichte verfasst. Sie setzen sich kritisch mit den nationalistischen Phrasen von der Verbindung zwischen körperlicher und sittlicher Ertüchtigung der Jugend auseinander, wie sie 1920 auch im ersten Programm der NSDAP auftauchten. Nur zum Schein, also satirisch, nimmt er den Ton und die Ideale der Turner an, konterkariert aber beides, indem er ihren stereotypen Vertretern gänzlich triviale und unheldische Gedanken und Motive zuschreibt. So führt er neben den Leibesübungen selbst auch deren politischen Charakter ad absurdum.

Schon 1920 erntet Ringelnatz mit solcher Dichtung nicht nur Applaus, sondern aus der nationalistisch-restaurativen Ecke auch scharfe Kritik. Im Februar 1933 werden erstmals Auftritte von Ringelnatz verboten, am 10. Mai brennen im Rahmen der studentischen “Aktionen wider den undeutschen Geist“ auch seine Bücher. Seine Bilder zählen nun zur sogenannten “entarteten Kunst“. Da finden sich kaum noch Galerien und Museen, die sie ausstellen wollen. Zur finanziellen Misere kommt eine jahrelang verschleppte Tuberkulose. Obwohl Freunde Geld für die Behandlung sammeln, erholt sich Ringelnatz nicht mehr: Am 17. November 1934 stirbt er in Berlin.

Heute hat Ringelnatz’ Werk ein Zuhause im Joachim-Ringelnatz-Museum in Cuxhaven gefunden. Dort werden nicht nur Handschriften und Bücher des Dichters gezeigt, sondern der Maler Ringelnatz tritt mit Zeichnungen und Bildern hervor. Hier hat man Gelegenheit, auch diese Seite von Ringelnatz kennenzulernen. Die war ihm selbst stets enorm wichtig, erfuhr aber nie dieselbe Beachtung wie sein schriftstellerisches Werk. Ringelnatz in preisgünstiger Ausgabe

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Landregen

Der Regen rauscht. Der Regen
Rauscht schon seit Tagen immerzu.

Und Käferchen ertrinken
Im Schlammrinn an den Wegen. – –
Der Wald hat Ruh.
Gelabte Blätter blinken.

Im Regenrauschen schweigen
Alle Vögel und zeigen
Sich nicht.

Es rauscht urewige Musik.

Und dennoch sucht mein Blick
Ein Streifchen helles Licht.
Fast schäm ich mich, zu sagen:
Ich sehne mich nach etwas Staub.

Ich kann das schwere, kalte Laub
Nicht länger mehr ertragen.

Morgenwonne

Ich bin so knallvergnügt erwacht.
Ich klatsche meine Hüften.
Das Wasser lockt. Die Seife lacht.
Es dürstet mich nach Lüften.

Ein schmuckes Laken macht einen Knicks
Und gratuliert mir zum Baden.
Zwei schwarze Schuhe in blankem Wichs
Betiteln mich »Euer Gnaden«.

Aus meiner tiefsten Seele zieht
Mit Nasenflügelbeben
Ein ungeheurer Appetit
Nach Frühstück und nach Leben.

 

 

 

*) Der Abschied vom bürgerlichen Namen war keine Absage an die Familientradition. Seinen Vater Georg Bötticher, auch er schon Verfasser von humoristischen Versen und Kinderliteratur, hat Ringelnatz sein Leben lang verehrt und geliebt, hat dies auch in mehreren Gedichten zum Ausdruck gebracht. Hier ein zwei Jahre vor Ringelnatz’ Tod erschienenes:

An meinen längst verstorbenen VaterAch steh noch einmal auf ins Leben,
Du toter Papa!
Der Krieg ist aus. Dann hat sich viel begeben.
Ob du wohl weißt, was mir geschah?

Ach, wenn du kommst, gibt es die Frage nicht:
Wer von uns hatte recht in seiner Meinung?
Wenn du nur kommst – doch komm nicht als Erscheinung.
Komm in mein reingeweintes Augenlicht.

Wenn du nur kommst! Ganz greifbar, nicht geträumt.
Wir werden wie zwei Wellen uns umschlingen.
Was uns durch Alter trennte, was versäumt
War, würde groß und unbefangen schwingen.

Ach weiß ich, dass kein Toter aufersteht.
Doch wenn es das, woran ich glaube, gibt,
Papa, dann hauche in mich ein Gebet.
Wir haben uns bisher nur fremd geliebt.

 

**) Für Angela H. in Idstein verbindet sich mit diesem Gedicht eine persönliche Erinnerung. Sie hat dem HDS davon berichtet:

“Man stelle sich die folgende Situation vor: Es ist eine erste Verabredung, eine Einladung zu einem Konzert von Stevie Wonder in der Waldbühne Berlin im Herbst 1987. Es regnet in Strömen, und der junge Mann hält den Regenschirm, unter dem man gemeinsam auf den Beginn des Konzertes wartet. Er sieht der jungen Dame ernst in die Augen und beginnt das Gedicht aufzusagen.

Da mag einem ganz schlecht werden vor triefendem Kitsch, in der Situation selber. Ein völlig unerwartetes, auswendig vorgetragenes Gedicht […] eine ganz besonders schöne romantische Erfahrung. Egal in wie vielen Situationen früher oder später es zum Einsatz kam. Ich habe die Erinnerung daran in meinem Schatzkästchen der besonderen Glücksmomente aufbewahrt. An das folgende Konzert habe ich keine Erinnerungen mehr.“

Florian Hoppe