Haus der deutschen Sprache
Deutsch - gestern und heute

Aus dem österreichischen Deutschsackerl

Von Botschaftsrat Wilhelm Pfeistlinger

Wir danken dem Direktor des Österreichischen Kulturforums Berlin, Botschaftsrat Wilhelm Pfeistlinger, für seine Beobachtungen und Gedanken zum österreichischen Deutsch, die er für das HDS wie folgt formuliert:

 

Österreichische Flagge           Aus dem österreichischen Deutschsackerl

Ein Satz mal zwei

Wien, Frühjahr 2010. Ringstraße. Marilies und Detlef Wutke, ein Touristenpaar aus Berlin auf Hochzeitsreise. Fiakerfahrt – Marilies zu Detlef: “Könntest du den Kutscher mal fragen, ob er bei der nächsten Würstchenbude nicht anhalten könnte? Wir brauchen einen Mülleimer, um die Abfalltüten zu entsorgen, und außerdem waren die Wiener Würstchen heute Morgen   so lecker, dass ich noch eines essen möchte, und obendrein ist unser Wasser alle, und ich habe nicht bloß Kohldampf, sondern auch ganz viel Durst, und die Zeit langt allemal, wir könnten sogar Nachtisch nehmen, endlich mal einen richtigen Aprikosenkuchen oder irgendeine richtige der berühmten Wiener Süßspeisen, er braucht erst in ein paar Stunden zu wenden. Jedenfalls ist es besser, wenn wir vor der Rückkehr ins Hotel schon Abendbrot gegessen haben werden.“

FiakerHerrn Wutke kümmern die kaskadenartig herausgestoßenen Direktiven seiner Frau freilich wenig, ebenso wenig wie die Prachtstraßenaussicht. Genüsslich schnarcht er sich durch den Nachmittag im Fiaker und ist nicht so einfach wach zu kriegen. Die Ehegattin gibt auf und  macht sich selbst ans Fragen: “Sagen Sie, Herr Kutscher, könnten Sie nicht bei der nächsten …“. Frau Wutke hat kaum ihr letztes “haben werden“ ausgesprochen, als sich ihr vom Kutschbock ein sichtlich irritiertes und mit dem Verkehrsgeschehen überbeschäftigtes Fiakergesicht für den Augenblick einer kaum zu erwartenden Antwort zuwendet: “Reden’S bitte Deitsch, gnä’ Frau!“

Gott oder vielmehr der Geldbörse der Wutkes sei Dank, hat der dritte im Fiaker befindliche Gast, der Wiener Fremdenführer Hubert Bauer, aufmerksam mitgehört und springt sofort ein, indem er sich umständlich, doch höflich, nochmals fragend der Wünsche von Frau Wutke versichert: “Also, gnä Frau, Sie wollen wirklich, dass der Fiaker beim nächsten Würstelstand stehenbleibt, weil Sie einen Mistkübel für die Mistsackerl brauchen und weil Ihnen die Frankfurter Würstel heute früh so gut geschmeckt haben, dass Sie noch eines essen wollen, und weil noch dazu Ihr Wasser aus ist und Sie nicht nur Hunger, sondern auch einen ganz schönen Durst haben und weil sich sowieso alles ausgeht, Sie könnten sogar noch eine Nachspeise nehmen, endlich einmal einen gescheiten Marillenfleck oder irgendeine anständige von den berühmten Wiener Mehlspeisen. Der Fiaker muss erst in ein paar Stunden umdrehen, in jedem Fall wäre es besser, wenn Sie schon vor der Rückkehr ins Hotel Nachtmahl gegessen gehabt haben.“ “Ja, jenau!“, repliziert Frau Wutke erleichtert. “Karl“, hebt Bauer an, “bleiben’S beim nächsten Würstelstand stehen, …“

Die Verdolmetschung des Wutke-Wunsches scheint mir in der Gegenüberstellung mit der ursprünglichen Sprachfassung, in die er sich ergossen hat, zu zeigen, dass man von einem Deutsch reden kann, das sich zu jenem Deutsch, das in Berlin, Frankfurt, Hamburg, Dresden, Hannover gesprochen wird, sowohl anders verhält als auch gleich. Es ist zu wenig anders, um eine eigene Sprache zu begründen, es ist hingegen zu sehr anders, um bloß als Dialekt betrachtet zu werden, denn es wird von den so Redenden als Hochsprache bewertet und hat Unterschiede in jedem für die Sprache wichtigen Bereich zu verzeichnen. Heben wir nur einige kurz hervor.

Schild: Fussgeher Achtung!Unterschiede im Wortschatz: Es gibt im Österreichischen ganz andere, in Deutschland unbekannte Wörter wie etwa Sackerl, Paradeiser etc. In Österreich ist sowohl der Entlehnungsgrad als auch der Anpassungsgrad an die umliegenden oder gesellschaftlich maßgebenden Sprachen sehr hoch. Wir haben einfach vieles oder angepasst übernommen (Fauteuil, Etage, Perron, Necessaire aus dem Französischen, sehr viel aus dem Jiddischen, Tschechischen, Ungarischen).

Bedeutungs-Unterschiede: Bestimmte Wörter bedeuten in Österreich anderes als in Deutschland; eines der häufigsten Beispiele: “ausgehen“. Die Bedeutungsverschiebung kann bis zur Unverständlichkeit, bis zum Kopfschütteln führen. Ausgehen kann bei uns bedeuten: am Abend fortgehen, “knapp“ oder “alle werden“, oder es erhält – durch die klitzekleine Hinzufügung eines “sich“, das natürlich Rückbezüglichkeit bewirkt – als “sich ausgehen“ die Bedeutung von “langen“, “reichen“, “ermöglichen“. Andere berühmte Beispiele für idiomatische Unterschiede sind die Bedeutung und Verwendung der Adjektive “anständig“ und “gescheit“ oder “ruhig“.

Unterschiede in der Grammatik: Paradebeispiel ist die Verwendung von “sein“ und “haben“ im zusammengesetzten Perfekt bei manchen Verben der angehaltenen bzw. ausgelösten Bewegung wie stehen, einschlafen, sitzen, schwimmen. Oder in der Verwendung der Zeiten – österreichisches Deutsch ist viel schlampiger, kennt fast nur Futur und Perfekt, kaum Futurum exactum (“wird er gesprochen haben“), Imperfekt (“sprach“) oder gar Plusquamperfekt (“hatte gesprochen“). Allerdings gibt es eine eigene österreichische Zeitform, die auch der Dichter Thomas Bernhard (1931-89) verwendete, das doppelte Perfekt: “Er hat es schon verwendet gehabt, ehe er sich der Vorzukunft zuwandte.“ Thomas Bernhard
Thomas Bernhard

Weder eine andere Sprache noch ein Dialekt, lässt sich dieses Deutsch als österreichische Sprachvariante des Deutschen bezeichnen, wenn man Deutsch als plurizentrische Sprache sieht. Darin ist es vielen Sprachen ähnlich. Wenn man von einem brasilianischen Portugiesisch spricht (und in diesem schreibt), von einem amerikanischen Englisch oder von einem mexi-kanischen Spanisch, dann gibt es keinen Grund, nicht von einem österreichischen und schweizerischen Deutsch neben dem deutschländischen Deutsch zu sprechen (und in ihm zu schreiben). Diese Sicht der Dinge sollte eine Selbstverständlichkeit sein.

Warum spricht man aber in Wirklichkeit kaum von einem österreichischen Deutsch – weder im Inland noch im deutschen oder auch anderen Ausland? Und warum, wenn das Thema angeschnitten wird, gestaltet sich das Reden davon zumeist sehr bald als unangenehm, schwerfällig, unlocker? Irgendwo ist hier ein Krampf, ein Mangel an Unbekümmertheit im Umgang mit der eigenen Sprache zu orten – sowohl bei den Österreichern als auch bei den Deutschen.

Wer sind diese Menschen, die diese Variante des Deutschen sprechen und gleichzeitig unter derartigen Krampfzuständen zu leiden haben?

Vier Thesen und -zig Geschichten

1. Österreich ist infolge seiner geographischen Vorgaben und eines kontinuierlichen historischen Ernüchterungsprozesses nicht nur ein sprachgeprägtes, sondern ein sprachbesessenes Land.

Österreich ist ein Land voller Besessener. Die Besessenheit hat einen Namen: Sprache. Die Sprache hat einen Namen: Deutsch. Die Besessenheit hat einen Grund namens Minderwertigkeitskomplex. Die Besessenheit hat eine Waffe namens Überlegenheitskomplex. Die Besessenheit in dem Land Österreich voller Besessener ist komplex und Komplex – ein komplexer Komplex diese Besessenheit.

Dieser komplexe Komplex ist die Enderscheinung einer mehrfachen Ernüchterung, mit der der Österreicher leben muss, will er überleben. Ihr Kern ist der Verlust an Unmittelbarkeit, Selbstverständlichkeit, Identitätssicherheit:

  • Diese Ernüchterung wird durch die geographische Lage Österreichs erleichtert und durch die geschichtliche Entwicklung beschleunigt. Sie betrifft vorerst das Dasein, die nackte Existenz des Landes. Sie stellt sich dar als Bedrohung des kleinen, mitten im Kontinent gelegenen Landes durch die Zange der anders gearteten wirklich nahen Nachbarn – der südslawischen (Slowenien), italienischen, magyarischen, westslawischen (Tschechien, Slowakei) – sowie des großen Nachbarn derselben Sprache (D). Die Verunsicherung ist denn auch in erster Linie eine politische, eine Erschwerung der Realität, angelegt in der Geographie, nachvollzogen durch die Geschichte. Realgeschichtlich gesprochen: Das heutige Österreich ist das Kernland eines seit Jahrhunderten mit Verlusten geschlagenen Reiches – ein Restplatz gewissermaßen eines an der Realität des Daseins irre gewordenen Vielvölkerstaates. Spätestens mit der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches und der Gründung des Kaisertums Österreichs im Jahre 1805 ist Österreich auf der Verliererstraße. Trotz so mancher Erfolge, Expansionen, wirtschaftlicher Blütezeiten etc. führt ein schwarzer Pfad direkt in die Jahre 1914 und 1918.
  • Mit dem Irrewerden an der Realität geht eine Wendung nach innen einher. Das verdoppelte Milieu der Sprache wird zur wesentlichen Realität. Sprache – im Falle Österreichs die deutsche Sprache – wird zum Refugium, eine Ästhetisierung des Daseins greift um sich. Der Österreicher lebt von der Sprache geprägt weiter, in ihr weiter, sprachbezogen, sprachspielend, sprachverspielt, sprachverträumt, – bis
  • er auch an der Sprache irre wird. Selbst sie, das Refugium, bleibt nicht verschont, die Ernüchterung an ihr wird geradezu zum Paradigma der Ernüchterungen. Was tun, wenn dieser letzte Halt – die Sprache – seinerseits von der allgemeinen Ernüchterung angegraut wird? Die Prägung durch die Sprache wird nunmehr in einer sich selbst überbietenden Anstrengung zur Besessenheit durch die Sprache, in der die Unmittelbarkeit des Verhältnisses zur Sprache nicht wiederherstellbar zu werden droht und vollends den Extremen eines Gefühls der Minder- oder der Höherwertigkeit Platz macht. Diese extreme Gegensätzlichkeit ineinander umschlagender, auf die und aus der Ernüchterung antwortender Verhaltensweisen der Sprache gegenüber dreht den Österreicher noch mehr in einen Wirbel hinein, der ihn bis zur Sprachzertrümmerung, zur absoluten Sprachskepsis oder zur Sprachmystik mit sich reißt. Der ungeheure Zug zur Morbidität besonders im dominanten östlichen Österreich kann vor diesem Hintergrund vielleicht besser verstanden und womöglich auch ertragen, gelebt und überlebt werden.

2. Die Sprachbesessenheit kann über den Umweg von Minder- und/oder Höherwertigkeitskomplex sprachlich produktive Wirkungen entfalten.

Mit anderen Worten: Die Ernüchterung ist eine Chance, eine mögliche Quelle von Inspiration und Kreativität. Sie ist experimentierförderlich, friede- und harmoniegeneigt, sie maximiert sprachliche wie zwischenmenschliche Sensibilitäten, verfeinert das Sprachsensorium, relativiert Bedeutungen, ermöglicht Vorwegnahmen im Sinne von Avant-Garde-Erkenntnissen. Die Ernüchterung kann aber auch Überempfindlichkeit, Unentschlossenheit und Untätigkeitskrämpfe bewirken.

3. These 1 und These 2 konkretisieren sich einerseits in der Sprache, andererseits aber ebenso im Sprachverhalten des Österreichers, das wiederum sich von dem des Deutschen absetzt. Diese Absetzbewegung entzündet sich bisweilen auch erst am Sprachverhalten des Deutschen.

Im Vergleich mit der Einstellung der Deutschen zur Sprache zeigt sich dies, nach dem Grazer Philologen Rudolf Muhr, in Verhaltensmustern wie

  • generelle innersprachliche Mehrsprachigkeit: Die Sprecher beherrschen in der Regel mehrere Varianten des Österreichischen bzw. Deutschen;
  • genereller Wechsel zwischen den Sprachvarianten in Abhängigkeit von Hörer, Situation, Intention, Rolle etc. – mit regionalen Unterschieden in Ost-Westrichtung. Das heißt de factoZweisprachigkeit und funktional angepasste Verwendung;
  • generelle Nichtverwendung der geregelten Standardsprache im Alltag – stattdessen
  • Standard nach innen – Varianten oder regionale Varianten;
  • starke Betonung der regionalen Zugehörigkeit zu einem Bundesland (trotz teilweise geringer sprachlicher Unterschiede);
  • Österreichische Kartestarke Beachtung von Rang und Hierarchie des Gesprächspartners;
  • differenzierte Wahl der Gruß- und Anredeformen;
  • starke Verwendung von Titeln und Rangkennzeichen;
  • größere Indirektheit der Sprechweise im öffentlichen Bereich und größere Direktheit im privaten;
  • Vermeidung der Festlegung in Konfliktsituationen (Jein-Sager);
  • Kompromissfindung und Konfliktvermeidung als oberste Handlungsmaximen.

4. Die Thesen 1 bis 3 bewahrheiten sich erkennbar in der ganz konkreten Sicht- und Behandlungsweise der deutschen Sprache seitens des Österreichers, gewissermaßen in dessen Selbstreflexion auf die eigene Sprache.

Die Kreativität der an der Sprache irregewordenen österreichischen Sprachbesessenheit hat zur Folge, dass Österreich in puncto deutsche Sprache ein Differenzierungsvermögen, ein Sensorium besitzt, dessen Konsequenz nur ein Österreicher wie der Schriftsteller und Satiriker Karl Kraus (1874-1936) als Einsicht so genial und prägnant formulieren konnte: „Es ist die gemeinsame Sprache, die Österreich und Deutschland voneinander trennt.“

In Österreich gibt es einerseits ein hohes Bewusstsein davon, dass es die gemeinsame Sprache ist, die uns trennt, sichtbar etwa in der Verankerung der Sprache

  • in der Verfassung (Artikel 8, Bundes-Verfassungsgesetz: Die deutsche Sprache ist, unbeschadet der den sprachlichen Minderheiten bundesgesetzlich eingeräumten Rechte, die Staatssprache der Republik.),
  • im emotionalen Seelenboden der Österreicher,
  • in einem ungemein hohen Anteil an Schriftstellern und innerhalb dieser Gruppe an Sprachfreaks und Sprachspielern.
Karl Kraus
Karl Kraus

Andererseits lässt sich in Österreich ein starkes Bewusstsein davon feststellen, dass es die gemeinsame Sprache ist, die uns trennt, sichtbar etwa in den Beharrungen auf spezifisch österreichischen Ausdrücken, Redewendungen, Eigenheiten der Wortbedeutung und der Grammatik, sowohl auf politischer Ebene (vgl. Anhang zum EU-Vertrag *)) als auch auf alltäglich-privater Ebene, sichtbar ferner in einer breiten und intensiven Forschung im Bereich „Deutsch“ und „Österreichisches Deutsch“. Regionale Sprach- und Dialektunterschiede setzen die gesamt-österreichischen Eigenheiten nicht außer Kraft, was in der Publikation etwa eines “Österreichischen Wörterbuchs“ zum Ausdruck kommt, in den Diskussionen über ein “Österreichisches Deutsch“ etc.

Österreichisches Wörterbuch Variantenwörterbuch des Deutschen

Die vitale Bedeutung der Sprache, konkret der deutschen Sprache, nicht nur für das Land, sondern für jeden denkenden Österreicher kristallisiert sich in den Vitae, den Lebens-Geschichten zahlreicher bedeutender Österreicher: Karl Kraus, Ferdinand Ebner, Martin Buber, Ludwig Wittgenstein, Ernst Jandl, Thomas Bernhard, Ingeborg Bachmann, Hans Carl Artmann.

(M)Eine Behauptung

Es besteht Sprachanpassungsdruck auf dieser Welt. Dieser ist eine Gesetzlichkeit, die, wie immer im Bereich des Menschen, ausarten, das Leben überfahren, ausradieren und beschneiden kann. Wird der Druck zum Überdruck, so muss ihm intelligent widerstanden werden. Völlig entgehen kann man ihm nicht, also muss man ihn mit Bedacht assimilieren und – das Zauberwort überhaupt – verwandeln.

Das gilt im Verhältnis der Sprachen zueinander ebenso wie im gegenseitigen Verhältnis der Sprachvarianten innerhalb einer Sprache. Meine Behauptung konkret: Den Sprachen wie den Sprachvarianten soll Gerechtigkeit widerfahren. Gerechtigkeit im Sprachlichen heißt aber anpassungsfähige, wieder Vielfalt erzeugende Vielfalt. Eine Sprache oder eine Sprachvariante, die sich nicht öffnen, auch nicht im guten Sinne anpassen will, wird früher oder später vergreisen und einfrieren, also keineswegs weiterleben. Eine Sprache, die dominieren will, wird früher oder später verarmen und degenerieren, also auch keineswegs dominieren. Daraus folgt: Sprachen und Sprachvarianten sollten kommunizieren und nicht kämpfen, weder gegeneinander noch ums Überleben noch um die Vorherrschaft.

Österreich erfreut sich 18 deutscher Fernsehsender. Ein wenig leidet es aber auch unter bzw. an ihnen. Um es frank und frei zu sagen: Wie in Deutschland, so ist auch bei uns das Problem “Denglisch“ sehr präsent. Wir haben aber noch eine zweite Präsenz zu gewärtigen, jene des Problems: “Deutschdeutsch“ oder “Deutschländisch“. Wir können versuchen, es durch Kampagnen oder Abschalten des Fernsehapparates zu lösen bzw. zu beseitigen. Doch Beseitigungen dieser Art sind zumeist bloß Verdrängungen und Aufschübe. Es wäre besser, wir stellten uns dem Problem und würden schlicht und einfach fortfahren, unsere Eigenheiten zu pflegen – die deutsche Sprache, deren deutsche, österreichische, schweizerische Varianten mittels Unterricht, Bewerbung, intelligenten Einsatzes – dort, wo sie am stärksten sind, alles im Vertrauen auf die Selbstregulierungskraft der Sprache.

Ich bin überzeugt davon, dass der Mensch nur überleben wird als zoon logon echon, als Sprache habendes Lebewesen; dass Sprache nur in der konkreten Vielfalt von Sprachen und dass jede dieser Sprachen nur in der konkreten Vielfalt von historisch gewachsenen Varianten überleben wird. Mit anderen Worten: Der Mensch wird nicht ohne Sprache, Sprache nicht ohne Sprachen, d.h. vermutlich auch Englisch, überleben, Englisch nicht ohne die anderen Sprachen, die anderen nicht ohne deren Brechungen in Varianten, die wiederum nicht ohne regionale Brechungen in Dialekte, diese wiederum nicht ohne die dörflichen Jargons, diese nicht ohne die Wärme familiärer Sonderverständigungsgemeinschaften und letztere nicht ohne das zoon logon echon, das zoon schließlich nicht ohne logos. Damit ist die Überlebenskette am Ende wieder am Anfang.

Aus dem Gesagten ergibt sich die Bange einer Überlegung, die zugleich Wunsch, Aufforderung und der Versuch einer Vorhersage ist: „Deutsch wird als plurizentrische Sprache überleben oder it won’t survive. No question.“

Dass es aber überlebt, dafür gibt es keine Sicherheit, wie es auch nicht als gesichert angesehen werden kann, dass der Mensch überlebt. Allein sicher ist, ist, dass es an unseren Herzen, in unseren Händen und in unseren Hoffnungen gelegen ist – dieses vielfältige Überleben.

*) „Protokoll Nr. 10 über die Verwendung spezifisch österreichischer Ausdrücke der deutschen Sprache im Rahmen der Europäischen Union“ aus dem Jahr 1994. Darin heißt es:

Im Rahmen der Europäischen Union gilt folgendes:

1. Die in der österreichischen Rechtsordnung enthaltenen und im Anhang zu diesem Protokoll aufgelisteten spezifisch österreichischen Ausdrücke der deutschen Sprache haben den gleichen Status und dürfen mit der gleichen Rechtswirkung verwendet werden wie die in Deutschland verwendeten entsprechenden Ausdrücke, die im Anhang aufgeführt sind.

2. In der deutschen Sprachfassung neuer Rechtsakte werden die im Anhang genannten spezifisch österreichischen Ausdrücke den in Deutschland verwendeten entsprechenden Ausdrücken in geeigneter Form hinzugefügt.