Haus der deutschen Sprache
Deutsch - gestern und heute

Sterben die Dialekte aus?

Von Horst Haider Munske

Diese Frage bewegt viele Menschen. Würde nur noch Hochdeutsch gesprochen im deutschen Sprachgebiet, dann wäre das eine spürbare Einbuße im menschlichen Miteinander. Im Dialekt sind sich die Menschen näher, sie reden ausdrucksreicher, emotionaler, weniger distanziert miteinander. Dialekte sind das sichtbarste Merkmal regionaler Identität. Auch der Zugereiste kann daran mit Vergnügen teilhaben, wenn er sich etwas eingehört hat und seinem Gegenüber zu verstehen gibt: Er muss mit ihm nicht in den hochdeutschen Code wechseln.

Zwei Beobachtungen begründen die Sorge um das Dialektsterben: der Rückgang des Dialektgebrauchs im Alltag und der vermeintliche Dialektverfall bei vielen jüngeren Sprechern. Das eine ist Ausdruck eines Sprachwechsels vom mündlichen Sprachverkehr zur prestigeträchtigeren Hochsprache. Das andere ist Folge des Kontakts zwischen Dialekt und Standardsprache. Im Munde zweisprachiger Sprecher übernehmen die Dialekte Wörter, Lautungen und grammatische Merkmale der Hochsprache und wandeln sich zu regionalen Umgangssprachen. Diese haben in vielen Regionen Deutschlands die Rolle der Dialekte als mündliche Alltagssprachen übernommen.

Die Klage über den Untergang der Dialekte ist übrigens so alt wie die über den Sittenverfall bei der Jugend, den Sprachverfall im Allgemeinen, den Verfall der Lesekultur, der Umgangsformen usw. Sie ist ein Ausdruck des Missvergnügens über den Wandel der Sitten, des Sprachgebrauchs und eben auch der Dialekte. Aber warum sterben die Dialekte? Lässt es sich aufhalten? Gilt das für alle Dialekte? Gibt es eine gegenteilige Entwicklung, aus der  einst auch unsere Hochsprache hervorgegangen ist, der Ausbau der Dialekte zu einer überregionalen Schriftsprache? Diesen Fragen ist eine Vortragsreihe an der Universität Erlangen-Nürnberg nachgegangen, in der über den bundesdeutschen Sprachraum hinaus die Dialektverhältnisse in der Schweiz, in den bairischen Sprachinseln Oberitaliens, in Nordfriesland, im arabischen Raum und in Lousiana/USA vergleichend einbezogen wurden (im Internet publiziert unter www.dialektforschung.phil.uni-erlangen.de). Daraus werden im Folgenden einige Aspekte zusammengefasst.

Wie sterben die Dialekte?

“Sterben“ können Dialekte natürlich nicht im eigentlichen Sinne wie Menschen, Tiere, Pflanzen. Ihr Untergang ist immer an die Menschen gebunden, die sie gebrauchen. Sprachen existieren durch ihre Sprecher. Durch sie werden sie an die nächsten Generationen weitergegeben. Der Spracherwerb der Kinder ist die Voraussetzung für das Weiterleben einer Sprache. Wenn dieser Weg abgebrochen wird, ist das Weiterleben einer Sprache in ernster Gefahr. Und wenn der letzte Sprecher einer Sprache gestorben ist, dann ist auch der Sprachtod eingetreten. So ging zum Beispiel der ostfriesische Dialekt auf der Insel Wangerooge endgültig unter, als die letzte Sprecherin im Jahre 1950 verstarb.

Tote Sprachen können natürlich, wenn sie aufgezeichnet wurden, wenn literarische Denkmäler überliefert sind, weiterhin gelesen werden, aber dies ist ein künstliches Leben, eine Art Wachkoma der Sprachen, sie leben nur noch durch diese Aufzeichnungen, nicht als Gebrauchssprachen, die der Mensch als Kind von den Eltern erlernt und im Gebrauch produktiv verändern kann.

Das Sterben der Dialekte – und überhaupt von Sprachen – hat zwei Hauptursachen: äußere, wie Naturkatastrophen, Kriege, Vertreibung, Genozid, von der die Sprecher betroffen werden. Die andere Ursache liegt im Sprachverhalten der Sprecher selbst, in der freiwilligen Abwendung von ihrer Sprache zugunsten einer anderen. Dies gilt vor allem für mehrsprachige Gesellschaften. In der Konkurrenz von Sprachen gehen manche unter, weil ihnen eine andere von den Sprechern vorgezogen wird.

Ursachen des Sterbens

Betrachten wir einige Beispiele. In Nordfriesland, auf den Inseln Föhr, Amrum, Sylt und Helgoland, auf den Halligen und dem gegenüberliegenden Festland gibt es zur Zeit etwa 5.000 Muttersprachler der verschiedenen nordfriesischen Dialekte. Trotz lebhafter institutioneller Bemühungen in Kindergärten, Schulen und Vereinen, diesen Stand zu halten oder gar zu verbessern, ist der Erhalt dieser kleinen, seit über 1.000 Jahren bestehenden Sprachgemeinschaft stark gefährdet. Die ersten schweren Einbrüche bedeuteten die gewaltigen Sturmfluten („Grote Mandränke“) von 1362 und 1634, durch welche ein ursprünglich weitgehend verbundenes Siedlungs- und Sprachgebiet vom Meer auseinandergerissen, zerstückelt und verkleinert wurde. Ähnliches widerfuhr erst in jüngster Zeit den kleinen Sprachgemeinschaften französischer und spanischer Dialekte (Cadien und Isleño) in Louisiana/USA.Nordseeinseln

LouisianaDie Wirbelstürme Katrina und Rita (beide 2005) haben nicht nur in New Orleans verheerende Zerstörungen verursacht, durch die Evakuierungen wurden die kleinen Sprachgemeinschaften dieser Region so auseinandergerissen, dass Beobachter hier vom sudden language death (übersetzt: „plötzlichen Sprachtod“) sprechen. Menschenwerk dagegen  waren die zahllosen Vertreibungen oder sogenannten Umsiedlungen des 20. Jahrhunderts, von Kurden, Armeniern und Griechen, von Wolgadeutschen, Schlesiern, Ostpreußen, Balten, Sudentendeutschen und unzähligen anderen. Auch ihre Dialekte waren davon betroffen. Die Überlebenden bewahren ihre Heimatsprachen meist bis an den Tod, aber selten geben sie sie an ihre Kinder und Enkel  weiter. Diese sozialisieren sich in neuer Umgebung, auch sprachlich. Verheerend betroffen waren die jiddischen Dialekte vom Genozid der Juden in West-, Mittel-, Süd- und Osteuropa.

 

 

 

Deutsche Ostgebiete (vor 1945)
Östlich der 1945 im Potsdamer Abkommen festgelegten „Oder-Neiße-Linie“ (zwischen Stettin und Görlitz): Ehemals deutsche Sprach- und Dialektgebiete (Ostpreußen, [Hinter-]Pommern, Schlesien)

SchopflochDoch sei hier auch ein singulärer Fall der Dialekt-Erhaltung erwähnt: Bis heute haben sich Reste des Westjiddischen im sogenannten Lachoudischen im Dorf Schopfloch im bayerischen Bezirk Mittelfranken erhalten. Obwohl das Jiddische bereits Ende des 19. Jahrhunderts durch den Sprachwechsel der meisten Sprecher vor dem Untergang stand, hat es sich als Hausierer- und Viehhändlersprache in regionalen Nischen erhalten. Schopflocher beherrschen noch bis zu 500 jiddische Wörter hebräischer Herkunft, die sie nach altem Brauch auch manchmal als Geheimsprache nutzen.

Zu den äußeren Ursachen des Dialektsterbens müssen wir auch Veränderungen zählen, die gemeinhin als Fortschritt gelten: die Verbesserung der verkehrsmäßigen Infrastruktur und die Erschließung neuer Erwerbsquellen durch den Tourismus. Beides hat in Nordfriesland dazu geführt, dass Friesisch als öffentliche Verkehrssprache anfangs vom Plattdeutschen, heute vom Hochdeutschen abgelöst wurde, dass alle Friesischsprecher zwei- oder dreisprachig sind und ihren friesischen Dialekt fast nur noch als Haus- und Nachbarschaftssprache benutzen. Solche Mehrsprachigkeit führt in der Regel zu einer Hierarchisierung der Sprachen. Ähnlich gefährdet sind die Dialekte in zwei altertümlichen bairischen Sprachinseln jenseits der Alpen, die erste Forscher im 19. Jahrhundert bis zu den Kimbern und Teutonen der Völkerwanderungszeit (4. bis 6. Jahrhundert n. Chr.) zurückführen wollten und deshalb Zimbrisch nannten.

Der Erhalt dieser Sprachinseln über Jahrhunderte ist ihrer Abgeschiedenheit und Unzugänglichkeit im Gebirge zu danken. Moderne Infrastruktur erlöst die Bewohner aus solcher Beschaulichkeit, eröffnet neue Berufsmöglichkeiten außerhalb der traditionellen Landwirtschaft und schafft dauerhafte Kontakte zu den italienischen Nachbarn. Stets befinden sich die Mitglieder solcher kleinen Sprachgemeinschaften im Konflikt zwischen dem Wunsch, ihre sprachliche Eigenart und Identität zu bewahren, und dem natürlichen Bedürfnis der jüngeren Generationen, die kommunikative Isolierung zu verlassen und sich durch einen Sprachwechsel den Anforderungen und Lockungen der heutigen Lebens- und Arbeitswelt zu öffnen. Was hier erst vor wenigen Jahrzehnten begonnen hat, prägt die Dialektentwicklung in Deutschland seit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Auch wenn die Dialekte auf dem Lande in 150 Jahren erstaunlich stabil geblieben sind, ihr Gebrauch ist rapide zurückgegangen.

Mehrsprachigkeit als Modell

Dieser Entwicklung haben die Deutschschweizer bis heute widerstanden. Die alemannischen Dialekte der Schweiz sind unangefochten das alleinige Medium aller Bevölkerungsschichten in allen mündlichen Kommunikationssituationen: nicht nur im Haus und auf der Straße, ebenso im Radio, in den Behörden, beim Militär, im Parlament (siehe auch Stiefmuttersprache im HDS). Dabei bedient sich jeder seines eigenen heimatlichen Dialekts, wird verstanden und versteht sein Gegenüber. Nebenbei kann jeder aus solcher Spracherfahrung den anderen lokalisieren, das heißt über den Dialekt seine Herkunft als Berner, Zürcher, Walliser usw. erkennen. Die deutsche Standardsprache dient ausschließlich als Schriftsprache der Deutschschweizer, wird in der Schule vermittelt, aber allenfalls im Kontakt mit Nicht-Schweizern (nicht ohne Akzent) benutzt. Sprachwissenschaftler bezeichnen solche stabile Funktionsteilung zweier verwandter Sprachen in einer Sprachgemeinschaft als Diglossie (das griechische Wort für “Zweisprachigkeit“).

Im Vergleich zum deutschen Nachbarn kennen die Schweizer keine Beschränkung des Dialekts auf bestimmte Gebrauchssphären, zum Beispiel Landwirtschaft, traditionelle Handwerke und Ähnliches. Das führt dazu, dass auch der Wortschatz der Schriftsprache in den Dialekt aufgenommen wird, allerdings lautlich integriert. So wird aus hochdeutsch “Entwicklung“ ein schweizerdeutsches Entwicklig, aus Einsatz wird Iisatz, aus möglicherweise wird möglicherwiis. Mit solchem integrierten Import sind die Dialekte jedem Thema gewachsen und verändern sich – zumindest lexikalisch – rasch. Das widerspricht mancher Erwartung, die Dialekte der Großeltern ließen sich konservieren. Sie bleiben nur lebendig und werden von den Eltern den Kindern als Muttersprache weitergegeben, wenn sie dem Leistungsanspruch heutiger mündlicher Kommunikation angepasst werden.

Mit dem Begriff Diglossie lässt sich das Verhältnis von gesprochener und geschriebener Sprache in vielen Sprachgemeinschaften gut beschreiben.

Ein klassischer Fall der Arbeitsteilung beider Varietäten besteht in den arabischen Staaten. Die heutige arabische Hochsprache, eine konservierte Form des Klassischen Arabisch, wird nirgends als Muttersprache erworben, erst in den Schulen vermittelt und stellt ein religiös motiviertes Bindeglied [Sprache des Koran] aller arabischsprachigen Länder dar. Gesprochen und als Muttersprachen erlernt werden aber die regionalen arabischen Dialekte. Auch hier herrscht eine stabile Diglossie. Doch während in der Schweiz die Dialekte als nationale Varietät hohes Prestige genießen, gelten die arabischen Dialekte nichts im Vergleich zur Schriftsprache. Dies ist eine extreme Form von Fehleinschätzung der Varietäten gesprochener Sprache, die auch in Deutschland lange vorherrschend war. Aus einem Koran-Druck
Aus einem Koran-Druck

Lehren aus dem Vergleich

Was lehren diese Beispiele und Vergleiche? Dialekte sind wie alle Sprachen einzigartige Zeugnisse unserer Lebenskultur, sie sind kulturelle Artefakte des Menschen. Das schützt sie aber nicht vor Wandel oder Untergang. Ihre Lebensbedingungen gleichen den Biotopen der Natur. Deren Wandel müssen sich Tiere und Pflanzen anpassen oder sie gehen ein. Wie in der Natur gibt es auch für Sprachen einen gewissen Schutz seitens der Politik. Friesisch und Sorbisch werden als Minderheitssprachen unterstützt, zum Beispiel in den Schulen auf Wyk/Föhr und in Bautzen/Oberlausitz gelehrt.

Auch gegenüber den Dialekten hat sich die Einstellung gewandelt. Sie werden zum Beispiel in bayerischen Schulen gepflegt und gefördert, nicht mehr wie einst als Hindernisse beim Erlernen des Hochdeutschen verteufelt. Die Schule will keineswegs der Feind der Dialekte sein, es sind vielmehr – das haben neuere Studien gezeigt – viele Eltern, welche ihren Kindern, aus Angst um deren Fortkommen, den eigenen Dialekt abgewöhnen wollen.

Die Zukunft der deutschen Dialekte liegt weniger in der vollständigen Erhaltung der kleinteiligen Vielfalt, sondern in ihrer Kombination mit den neuen Regionalsprachen, den überregionalen Umgangssprachen, die – besonders in Süddeutschland – zunehmend die Hauptrolle der mündlichen Kommunikation übernehmen. Auch die Dialektforschung hat sich dieser neuen Situation angepasst. Ihr Thema sind nicht mehr in erster Linie die traditionellen Dialekte älterer Sprecher auf dem Lande, sondern alle Varietäten gesprochener Sprache außer dem Hochdeutsch der Nachrichtensprecher, das heißt Dialekte, Umgangsprachen und die verschiedenen regionalen Akzente hochdeutschen Sprechens. Diese Lebenswirklichkeit des Deutschen sollten wir schätzen und bewahren.

Horst Haider Munske ist emeritierter Professor für germanische und deutsche Sprachwissenschaft und Mundartkunde an der Universität Erlangen-Nürnberg. Wir danken ihm für die Erlaubnis, diesen Text in das HDS zu übernehmen. Zuvor war er in der Zeitschrift Sprachnachrichten (Nr.44) des Vereins Deutsche Sprache e.V. (VDS) erschienen.