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Grimms Wörter: Eine Liebeserklärung

Günter Grass erzählt drei Geschichten: die der Wörter, die der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm und seine eigene. Zwanglos angeordnet, gelenkt von Einfällen und Gedanken, die dem Autor beim Drehen und Wenden der Wörter kommen. Aber auch übersichtlich, nach dem Alphabet, entlang den Lebenslinien der beiden Grimms und mit Rückblicken auf die markanten Augenblicke seines eigenen Daseins. Und auf die großen Stationen der deutschen Geschichte, von der Paulskirche bis zum Mauerfall – und danach.

Beim Buchstaben D im Band 2 stößt er auf den Daumen, kommt auf Daumesdick und Daumerling, auf das Märchen vom Kleinen Däumling und erfindet – pommerscher Brauch – wie die philologischen Brüder sich bei einem Abschied die Daumen reiben. Schnell ist sein Däumling zur Stelle, der Kirchenglas und Reagenzgläser zersingende Dreikäsehoch Oskar. Dem widmet er ein ganzes Gedicht. Weiter geht es mit Daumenschrauben, Daumenlutscher, Däumchen drehen und Däumelinchen, der Schwester des Däumlings, von der es auch ein Märchen gibt.

Grass umspielt das bloße alphabetische Nacheinander der Wörter, indem er ganze Sätze baut und Erläuterungen einflicht: „Ich versuche mit schulfrei, dienstfrei, dem Freizeitpark … und FKK-Stränden neuzeitliche Freiheitsträume zu erweitern …, mache aus Erwerbslosen freigestellte Arbeitskräfte und treibe weiteren Schindluder mit dem schönen Wort.“ Das wendet trockene Philologie in lockere Belehrung.

Bei Wüste kommt er auf sich selbst zu sprechen. Er sieht sich als mahnender Wüstenprediger. Als Rechthaber und Besserwisser wird er verunglimpft, beschimpft, bespuckt. Er schweift ab zu anderen bedeutsamen Augenblicken seines Lebens: der Krieg, den er als 17-jähriger Soldat der Panzer-SS mitmachte – sattsam bekannt aus Beim Häuten der Zwiebel –, seine Wahlkampfhilfe für Willy Brandt, seine Kritik an einer überhasteten Wiedervereinigung. Und er kommentiert, bewertet und entlarvt. Die Auswüchse des Kapitalismus, der den wenigen Reichtum beschert und die Armut der vielen nicht verringert. Die Kumpanei von Polizisten, die einen Kollegen decken, der einen protestierenden Studenten gezielt erschoss.

All das angeknüpft an die Erzählung über Jacob und Wilhelm Grimm und ihre Wörtersuche. Grass lässt sie auferstehen, begegnet den beiden im Berliner Tiergarten, verweilt mit ihnen bei eisiger Dezemberkälte auf einer Bank. Er setzt sie in das Wrack eines vom Krieg übrig gebliebenen Kübel­wagens, wo die Brüder fachsimpeln und freundlich streiten.

Die bekannten Gestalten im Umkreis der Grimms treten auf: der Verleger Salomon Hirzel, der das Wörterbuch erst möglich machte; die Dichter Hoffmann von Fallersleben, Bettina von Arnim; die späteren Bearbeiter in Ost und West, Theodor Frings und Hans Neumann. Und natürlich all die Großen von Luther über Hans Sachs, Fischart, Gryphius, Lessing, ­Rückert, Uhland und natürlich Goethe. Ihre Texte liefern Belege für den Gebrauch und die Bedeutung einzelner Wörter.

Eine Handvoll Rezensenten haben an Grimms Wörter herumgemäkelt. Vom „Oralverkehr mit den Vokabeln“ schreibt ein unberatener Kritiker und wirft Grass vor, er „missbrauche die Brüder Grimm für eine gnadenlose Selbstfeier“. Das ist barer Unsinn. Andere reiben sich an der sprachlichen Altertümelei, die Grass betreibt. Eigenwillige Wortstellung oder weit her gesuchte Ausdrücke. Na ja, das kann man auch genießen. Marcel Reich-Ranicki – er hat Grass nie geschont, die Blechtrommel früh getadelt und einen bösen Verriss über den Wiedervereinigungsroman Ein weites Feld geschrieben … der große Reich-Ranicki redet von dem „interessantesten Roman … über das wichtigste Buch in deutscher Sprache“. Dem wird die Mehrheit der Leser zustimmen.

Eine Liebeserklärung nennt Günter Grass sein Buch über das riesenhafte, 32 Bände umfassende und 350 000 Wörter auflistende Werk der beiden Grimms. Kein Zweifel, die Liebe gilt der deutschen Sprache. Sie teilt sich dem Leser mit, wenn sie nicht schon vorhanden ist.

Grass selbst führt vor, welch großartige Gestalt die deutsche Sprache annehmen kann – und wie sehr sie unsere Liebe verdient. Sein Text besitzt Anmut und Geschmeidigkeit, hat Witz und Humor und jene kraftvolle Derbheit, die ein Teil der deutschen Sprache ist.

Gerd Schrammen

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Günter Grass: Grimms Wörter.
Eine Liebeserklärung.
dtv München 2012. 358 Seiten. 12,90 Euro. ISBN 978-3-423-14084-3

Beitrag aus VDS-Sprachnachrichten Nr. 56 (4/2012)