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Benedikt Jeßing, Karin Kress, Jost Schneider: Kleine Geschichte des deutschen Romans

Schlechte Gewohnheiten

Literaturgeschichten sind aus der Mode gekommen. Sie galten einmal als unverzichtbar. Ich weiß noch, wie wir als Studenten – schlecht angeleitet – uns durch dicke Geschichten der deutschen Literatur quälten. Die Stellen, die wir für wichtig hielten, rot, blau oder grün markierten. Und nutzloses Afterwissen erwarben.

„Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ – das ist die Formel, mit der die Kritik sich gegen die Literaturgeschichte wendet. Die zeitliche Nähe der Werke verbürgt keine inhaltliche Vergleichbarkeit. Sie sagt noch nichts aus über die Wesenszüge von Texten, die es erlauben würden, diese zu Mengen mit gemeinsamen Merkmalen zusammenzufassen und unter einen Epochenbegriff zu stellen. Der kann in die Irre führen.

Bedenken wir auch: Literarische Werke sind keine Fakten, die wir von außen beobachten, sie beschreiben und Beziehungen zwischen ihnen darstellen können. Zwischen der Ermordung ihres Thronfolgers in Sarajewo und der Kriegserklärung der Österreicher an das zaristische Russland besteht ein erkennbarer Zusammenhang. Wir können ihn unter der Überschrift „Erster Weltkrieg“ oder „Das Ende von Kaiser und Zar“ abhandeln. Kausale Beziehungen beschreiben. Bei den literarischen Werken geht das nicht so einfach. Das liegt auch daran, dass sie allein im Kopf – in der Vorstellungswelt – des Lesers zum Ereignis werden. Dort nehmen sie vielfältige Gestalt an und gehen Ehen und Freundschaften ein, die sich nicht um zeitliche Einordnungen kümmern. Manchmal finden sie den Weg vom Kopf auf die Bühne. Und sind immer noch nicht „wirklich“.

Der Literaturliebhaber wird gut daran tun, den Schriften zur Literaturgeschichte mit Misstrauen zu begegnen. Viel Hilfe zum Verständnis der Werke werden sie ihm nicht bieten. Würden sie nicht geschrieben, wäre das ein geringer Verlust.

Drei Germanisten aus Bochum haben sich trotzdem auf unwegsames Gelände begeben und eine „Kleine Geschichte des deutschen Romans“ verfasst. Wie heikel das ist, können sie nicht verbergen. Bei dem Begriff „Barock“ ist ihnen nicht ganz wohl. Er ist vielgesichtig. Derbe Schelmenromane und höfische Liebesgeschichten finden sich nebeneinander in geringem zeitlichen Abstand. Die Autoren zwingen Fremdes zusammen.

Thomas Manns Zauberberg (1924) und Hesses Siddharta (1922) schlagen sie der Epoche des Fin de siècle zu. Zu allem Überfluss gilt Hermann Hesses Indienroman auch als „Neuromantik“. Könnte also einer Zeit zugerechnet werden, die mehr als 100 Jahre zurückliegt.

Beim 19. Jahrhundert springen Benedikt Jeßing und seine Mitautoren aus den zeitlichen Zusammenhängen und behandeln die Texte nach den vorherrschenden Themen. Das sind: Gesellschaft, Liebe, Natur und Kunst. Da ergeben sich einleuchtende Beziehungen zwischen zeitlich so weit auseinander liegenden Werken wie Hölderlins Hyperion (1799) und Fontanes Effi Briest (1894). Die Autoren verzichten auf einen ausdrücklichen Vergleich zwischen beiden Romanen. Aber sie geben dem Leser Anstöße dazu.

Das Gute an dem Buch sind die knappen Abschnitte über einzelne Werke. Sie enthalten brauchbare Deutungen, die das Verständnis fördern. Auch die Romanauszüge sind ergiebig trotz ihrer Kürze. Was ich da über den Anton Reiser (1790) von Karl Philipp Moritz finde, über Rilkes Malte Laurids Brigge (1910) oder Kafkas Amerika (1927) bringt mir die Texte näher.

„Am besten lesen“, rät der Verlag auf der ersten Umschlagseite. Ich werde es tun. Ein zweites Mal. Aber gegen den Strich. Ich werde mir die Texte herauspicken, auf die ich neugierig bin, und so Verständnis gewinnen für die „unbestrittenen Meisterwerke … vom Simplizissimus bis zur Blechtrommel“. Und ich werde Kenntnisse gewinnen über „die Liebesabenteuer und Räuberpistolen aus dem Gegenkanon der tatsächlichen Bestseller“. Beziehungen zwischen den Werken werden sich mir auftun. Sie werden nicht – oder nur geringfügig – historisch sein. Und um Epochen wie „Klassik“ oder „Biedermeier“ werde ich mich nicht kümmern.

Gerd Schrammen

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Benedikt Jeßing, Karin Kress, Jost Schneider: Kleine Geschichte des deutschen Romans. Darmstadt: Lambert Schneider Verlag 2012. 221 Seiten. 24,90 Euro.
ISBN 978-3-650-24347-1

Beitrag aus: VDS-Sprachnachrichten Nr. 57 (1/2013)