Haus der deutschen Sprache
Deutsch - gestern und heute

Analphabetismus in Deutschland

Lesen und Schreiben – (k)eine Selbstverständlichkeit?!

Von Amelie Ellinger

Einen Einkaufszettel schreiben, Abrechnungen überprüfen, Kreuzworträtseln, einen Brief aufsetzen, wählen gehen… das kann doch wohl jeder! – Falsch. Jüngste Erhebungen sprechen von vier Millionen Analphabeten in Deutschland. Das ist eine Zahl, die von Staat und Gesellschaft keinesfalls einfach hingenommen werden kann.

Man versteht unter Analphabetismus die fehlende Kenntnis des Lesens und Schreibens, unter Alphabetisierung die Vermittlung dieser Fähigkeiten.

Analphabetismus misst sich an der Schriftlichkeit und der Schriftkultur einer Gesellschaft und ist somit von Land zu Land unterschiedlich definiert. In Deutschland wurde Analphabetismus lange Zeit als ein Problem der Vergangenheit angesehen, das in Europa im Laufe des 19. Jahrhunderts verebbt war. Heutzutage trete er, so meint man, höchstens noch in Entwicklungsländern auf.

Diese Annahme mag auf den „primären Analphabetismus“ auch zutreffen. Primäre Analphabeten sind Personen, die keinerlei Lese- und Schreibkenntnisse und auch noch keinen Schulbesuch hinter sich haben. Sie weisen demnach eine „natürliche“ Form der „Illiteralität“, also der Unkenntnis des Lesens und Schreibens, auf.

Daneben gibt es sekundäre Analphabeten, deren erworbene Lese- und Schreibfähigkeit nicht gefestigt ist und die diese trotz abgeschlossenem Schulbesuch aus Mangel an Anwendungsmöglichkeit verlernt oder vergessen haben.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden zunehmend „funktionale Analphabeten“ festgestellt und zum Erstaunen vieler auch in einer Industrie-Nation wie Deutschland. Als funktionale Analphabeten bezeichnet man Personen, deren vorhandene Lese- und Schreibfähigkeit nicht ausreicht, um die Erfordernisse im Alltag und im Berufsleben zu bewältigen.

Haus der ...
... deutschen ...
... Sprache

Auch ein Umzug in einen anderen Kulturkreis kann zu funktionalem Analphabetismus führen, sofern die Ansprüche im Schriftsprachbereich im neuen Land höher liegen als im Herkunftsland.

Analphabeten haben enorme Schwierigkeiten, einen würdigen Platz in der Gesellschaft zu finden. Denn erst die Beherrschung der Schriftsprache ermöglicht die Bewältigung einfacher Alltagssituationen, etwa das Ausfüllen von Formularen oder das Lesen der schriftlichen Benachrichtigungen öffentlicher Einrichtungen wie Post, Stadtwerke, Banken etc. *)

In den 1970er Jahren hat die deutsche Regierung die Meldungen der Analphabetismusfälle noch als Einzelschicksale abtun wollen, doch die Zahlen sind weiter angestiegen, so dass Politiker und Bildungsministerium handeln mussten. Wissenschaftler forschen weiter und stoßen dabei auf zahlreiche Erwachsene, die bereits seit Jahrzehnten in Deutschland leben, ohne die deutsche Schriftsprache zu beherrschen. (Dasselbe gilt sicherlich auch für Österreich und den deutschsprachigen Teil der Schweiz.)

Neben Deutschen und deutschstämmigen Rücksiedlern aus Osteuropa (z.B. Rumänien und Russland), die mit nur rudimentärer Schulbildung in einer schreibkundigen Gesellschaft untergehen, tritt der Analphabetismus auch unter Ausländern, den sogenannten Migranten, in Erscheinung.

Seit der Anwerbung von Gastarbeitern in den 1950er Jahren kamen immer mehr Ausländer nach Deutschland, ihre Familienangehörigen zogen nach. Zu Beginn dieser Entwicklung kümmerte sich kaum jemand um ihre Integration. Sie sollten nur eine Weile in Deutschland arbeiten und schon bald in ihr Land zurückkehren.

Entgegen dieser Vermutung, die sowohl Gastarbeiter als auch Deutsche geteilt hatten, sind viele geblieben. Inzwischen sprechen sie fließend Deutsch, keiner vermutet ihre Schriftlosigkeit. Denn in der Fabrik oder auf Ämtern hat man sich bereits daran gewöhnt, Anträge oder Formulare für sie auszufüllen und lediglich eine Unterschrift zu verlangen, welche in Form einiger Kreuzchen oder Schnörkel problemlos gegeben wird. Inzwischen ist die zweite Generation herangewachsen. Das Schicksal der Kinder der Arbeitsmigranten ist vorbestimmt: Weder im Deutschen noch in ihrer Muttersprache bekommen sie ausreichende Unterstützung. Niemand erkennt die prekäre Lage.

Zwar herrscht in Deutschland eine allgemeine Schulpflicht, doch verhindern oft Probleme im Privatleben oder bei der Leistungserbringung den erfolgreichen Schriftspracherwerb. Gleichgültigkeit oder Ablehnung der Eltern, familiäre Konflikte, Leistungsdruck oder Außenseiterdasein sind für viele Kinder keine Seltenheit. Sie entwickeln ein negatives Selbstbild und ziehen sich in ihre Versagensängste zurück.

Nach dem Schulbesuch ist ihr Berufsfeld durch ihre unzureichende Schriftsprachkompetenz stark eingeschränkt. Rund vier Millionen Menschen haben sich mit der Zeit mit einem Leben am Rande der Gesellschaft abfinden müssen und fühlen sich diskriminiert. Es schaltet sich ein Vermeidungsprozess ein, und sie versuchen, ihre Schriftunkundigkeit vor Freunden und Familie zu verstecken – „nur nicht auffallen“ wird zu ihrem Lebensmotto.

Vergleicht man den Lernhintergrund der deutschen funktionalen Analphabeten mit dem der ausländischen, steht man zuweilen vor zwei völlig verschiedenen Situationen. Die Migranten reagieren auf ihre offensichtliche Schwäche meist positiv. Ihr Analphabetismus hat in der Regel eine plausible Erklärung. In vielen Fällen waren die Bildungsstätten im Heimatland für Frauen einfach nicht zugänglich, oder es gab keine Schulen in ihrer Wohngegend. Manchmal hinderte sie auch ein Krieg oder Bürgerkrieg am Schulbesuch. In Deutschland bietet sich ihnen endlich die Möglichkeit, das Lesen und Schreiben zu lernen, so dass sie häufig engagiert und furchtlos in die Alphabetisierungskurse gehen.

Während der Schriftspracherwerb bei ausländischen Erwachsenen oft schlichtweg aus Mangel an Gelegenheit im Heimatland ausgeblieben ist, prägt die deutschen Analphabeten eine Reihe von Misserfolgen und Diskriminierung. Die Stigmatisierung in der Gesellschaft hinterlässt ihre Spuren: Ängste, Frustration und Zurückhaltung sind die Folge. Niemand will gern öffentlich Schwäche zeigen. Ihr Alltag ist bestimmt von provisorischen „Übersetzungs“-Methoden und Vermeidungsstrategien. Nicht selten wirkt sich das offensichtliche Defizit, die Angst, sich als Schriftunkundiger zu erkennen zu geben, auch psychisch bzw. psychosomatisch aus. So wird bald klar, dass die Alphabetisierungskurse nicht unabhängig von Beratungsgesprächen und der Aufarbeitung schlechter Erfahrungen ablaufen können.

Nischt jeder kan leesen udn schreiben aber jeder kan helven

Die individuelle Beratung ist ein wesentlicher Bestandteil der Alphabetisierungsarbeit. Der Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung e. V. hat mit der Einrichtung des Alfa-Telefons bereits einen großen Schritt getan.

Im Netzauftritt dieses Bundesverbandes befinden sich ein Link zum Alfa-Telefon sowie weitere aktuelle Informationen zum Thema.

Startseite


Alfa-Telefon: 0251 – 53 33 44

*) In seinem 1995 erschienenen und in vielen Sprachen zum Verkaufsschlager gewordenen Roman „Der Vorleser“ schildert Bernhard Schlink das Schicksal einer lese- und schreibunkundigen erwachsenen Deutschen. Dieser spannende Roman ist als „Diogenes Taschenbuch“  (ISBN: 978-3-257-22953-0) im Buchhandel erhältlich (8,90 Euro). Das HDS empfiehlt ihn seinen Gästen.