Haus der deutschen Sprache
Gedicht des Monats

Gedicht des Monats November 2008

Dezember ante portas

Alle Jahre wieder …

Die Sommerferien sind abgehakt. Kaum haben die neuen Erstklässler ihre Schultüten leer genascht, da werden in den Läden die ersten Pyramiden aus Weihnachtsgebäck geschichtet, jedes Jahr ein wenig früher. Am ersten Adventssonntag beginnen die Fußgängerzonen nach Glühwein, Grünkohl und Gebratenem zu riechen. Es ist mal wieder soweit.

„Alle Jahre wieder…“ wird uns aus den Lautsprechern der Einkaufszentren und zahlloser Christkindl-Märkte rechtzeitig in Erinnerung gedudelt „kommt das Christuskind…“. Öffnet eure Herzen und, wenn ihr einmal dabei seid, gleich auch eure Portemonnaies!

Die Auswahl an lautsprechertauglichen Weihnachtsliedern mit werbewirksamem Wiedererkennungswert ist nicht groß. Vielleicht sechs oder acht Melodien müssen reichen, uns an unsere Kauf- und Verzehrpflicht zu erinnern. ‚Leise rieselt der Schnee’, ‚Morgen, Kinder, wird’s was geben’, ‚O Tannenbaum’ usw – das halbe Dutzend derart zu Ohrwürmern verkommenen deutschsprachigen Liedern hat sich ein paar amerikanische Importe zur Verstärkung geholt. ‚Jingle Bells’, ‚Rudolph the Red-Nosed Reindeer’, ‚I’m Dreaming of a White Christmas’ and so on … Macht nichts – die Texte kann man so oder so meist nicht verstehen.

Manchmal eben doch. Eine HDS-Besucherin aus Salzburg hat uns an die Königin unter den Weihnachtsliedern erinnert – sicher nicht zufällig: Denn aus Salzburg stammte auch der Dichter des Lied-Textes. Vor 190 Jahren haben seine Verse ihren Siegeszug um die Welt angetreten.

Stille Nacht, heilige NachtStille Nacht, heilige Nacht!
Alles schläft, einsam wacht
Nur das traute, hochheilige Paar.
Holder Knabe im lockigen Haar,
Schlaf in himmlischer Ruh,
Schlaf in himmlischer Ruh.

Stille Nacht, heilige Nacht!
Hirten erst kundgemacht,
Durch der Engel Halleluja
Tönt es laut von fern und nah:
Christ, der Retter, ist da,
Christ, der Retter, ist da!

Stille Nacht. Heilige Nacht!
Gottes Sohn, o wie lacht
Lieb aus deinem göttlichen Mund,
Da uns schlägt die rettende Stund,
Christ, in deiner Geburt,
Christ, in deiner Geburt.

So weit, so gut. Wir befinden uns hier allerdings im HDS-Kapitel „Gedicht des Monats“, nicht „Lied des Monats“. Betrachtet man allein den Text, wird man – wenigstens auf den ersten Blick – weder an seiner sprachlichen Form noch inhaltlich Unwiderstehliches ausmachen: ein etwas stakkatohafter Satzbau, eher blasse Bilder. Auch die Reime verblüffen nicht gerade, und ein paar Aussagen sind durch die biblische Weihnachtsgeschichte nur schwach gestützt.

Aber wer kann diesen Text schon lesen, ohne dass sich im Hinterkopf die Melodie dazuschaltet?

Die ist zwar auch eher schlicht. Doch nimmt man beides, Text und Melodie, zusammen, so entdeckt man –

Joseph Mohr aber zuerst einmal ein kurzer Blick auf die Entstehung: 1816, also mit erst 24 Jahren, schreibt der 1792 in Salzburg geborene Priesteranwärter Joseph Mohr diese Verse nieder. In der Vorweihnachtszeit 1818 braucht er für eine Feier etwas Neues, erinnert sich an sein eigenes Gedicht und bittet den Organisten und Lehrer Franz Xaver Gruber, ihm eine Melodie dazu zu komponieren. Der tut’s, und kurz darauf erklingt das Lied erstmals öffentlich – Franz Xaver Gruber
Joseph Mohr (1792-1848) Franz Xaver Gruber (1787-1863)

ja, dann entdeckt man im Zusammenwirken von Text und Melodie doch etwas Großartiges, etwas, das den ungeheuren Erfolg dieses Liedes vielleicht erklären kann.

Gerade das, was oben etwas geringschätzig über Satzbau und Reim gesagt wurde, und auch die mehrfachen Wiederholungen – das alles wird durch die Melodie gerade zur Stärke des Liedes, macht seine Einprägsamkeit aus. Schwer zu sagen ist, ob es Mohrs sprachliche Schlichtheit war, die Gruber die einfache und zugleich mächtige Melodie eingab, oder ob – umgekehrt – erst dessen Vertonung dem Text Kraft und Kontur gegeben hat.

 

Noten: Stille Nacht

 

Wer weder dem Text noch der Melodie noch dem Lied als Ganzem etwas abgewinnen kann, wird gleichwohl zur Kenntnis nehmen müssen, dass Millionen von Menschen rund um den Globus das anders sehen, und das seit langem. „Stille Nacht, heilige Nacht“ ist ein Welterfolg geworden, und zwar schon zu einer Zeit, als es noch keine technischen Mittel gab, Lieder von heute auf morgen in jedem Winkel der Erde erklingen zu lassen. Mohr und Gruber müssen also irgendetwas unglaublich richtig gemacht haben.

In weit über hundert verschiedene Sprachen sind Mohrs Verse übersetzt worden. In einigen Sprachen gibt es gar mehrere Versionen. Aber alle Übersetzungen müssen zu Grubers Takt passen, sonst lassen sie sich nicht singen.  Am weitesten verbreitet und auch schon in deutschsprachigen Gebieten zu hören ist die englischsprachige Version (Silent night, holy night. All is calm, all is bright …) Umgekehrt gibt’s für originalbewusste anglophone Chöre eine phonetische Hilfsversion: Stea_lay nahcht! Hi_lee_gay nahcht, ah_lays shlayft; ine_sam wahcht …

Auch die Franzosen singen mit: Douce nuit, sainte nuit. Tout s’endort au dehors… Die Polen dagegen: Cicha noc, swieta noc; pokój niesie ludziom wszem… Bei den Tschechen heißt’s: Tichá noc, svata noc, jala lid v bláhý kid. In den Niederlanden klingt’s für deutsche Ohren vertrauter: Stille nacht, heilige nacht. Alles slaapt, sluimert zacht… Etwas exotischer dann wieder das Dänische: Glade jul, dejlige jul! Engle dale ned i skjul… Und auch eine lateinische urbi-et-orbi-Version ist im Umlauf: Sancta nox, placida nox. Nusquam est ulla vox…   

All das und hundert mehr, wie gesagt, immer mit Grubers Melodie.

Wir kennen weitere Beispiele dafür, wie deutschsprachige Gedichte mit ihren nachträglichen Vertonungen fast untrennbar zu populären Liedern verschmolzen sind.

An der Vertonung von Goethes „Sah ein Knab’ ein Röslein stehn …“ (1771) haben sich viele Komponisten versucht. Erst fast sechzig Jahre nach der Entstehung des Gedichts schuf der ansonsten recht unbekannt gebliebene Komponist Heinrich Werner die heute allen bekannte Melodie, die Goethes Versen später den Weg um die Welt bereitete (vgl.  Gedicht des Monats Juni 2008). So bekannt wurde diese Leistung zweier Menschen, dass das „Heidenröslein“ heute oft kurzerhand (aber falsch) als „Volkslied“ bezeichnet wird.

Friedrich SilcherFriedrich Silcher (1789-1860) hat durch seine Vertonungen eine große Zahl von deutschsprachigen Gedichten zu volkstümlichen Liedern werden lassen. Wer Heinrich Heines Gedicht von der Loreley  („Ich weiß nicht, was soll es bedeuten…“) als Gedicht vorträgt, riskiert, dass seine Zuhörer Silchers weltberühmt gewordene Melodie zu summen beginnen. Ähnlich könnte es beim Vorlesen von SElvis Presleyimon Dachs „Ännchen von Tharau“ gehen oder bei Wilhelm Müllers (wer kennt ihn heute noch?) „Am Brunnen vor dem Tore…“ –

Unbekannt, aber unverkennbar schwäbisch ist der Dichter der ersten Strophe von Muss i denn zum Städtele hinaus… Auch hierzu hat Silcher die international bis heute beliebte Melodie geschrieben. Als Elvis Presley 1960 seinen Wehrdienst in Hessen ableistete, sang er das Lied auf Platte, zu einem Teil auf GI-Deutsch, zum anderen auf Englisch als „Wooden Heart“, und beides nach Silchers Melodie.

In den kirchlichen Gesangbüchern findet sich eine Vielzahl von Silcher-Melodien.

Ein anderes schönes Beispiel ist das „Wiegenlied“. Johannes Brahms’ (1833-97) eindringliche Melodie hat die schlichten Kinderverse eines namentlich nicht bekannten Dichters mit auf ihren Weg um den Erdball genommen:

Guten Abend, gute Nacht
Mit Rosen bedacht,
Mit Näglein besteckt,
Schlupf unter die Deck.
Morgen früh, wenn’s Gott will,
Wirst du wieder geweckt.

Im 20. Jahrhundert gab es einen dem Welterfolg von „Stille Nacht, heilige Nacht“ (fast) vergleichbaren Fall des zeitlich versetzten Zusammenwirkens eines Texters und eines Komponisten. Beide sind der Nachwelt nicht mehr, waren wohl auch ihren Zeitgenossen kaum bekannt – obwohl beide fleißig dichteten und komponierten: Der Dichter Hans Leip (1893-1983) und der Film- und Bühnenmusiker Norbert Schultze (1911-2002). Leip schrieb 1915, also während des 1. Weltkriegs, die Verse

Vor der Kaserne
Vor dem großen Tor
Stand eine Laterne
Und steht sie noch davor
So woll’n wir uns da wieder seh’n
Bei der Laterne wollen wir steh’n
Wie einst Lili Marleen.Unsere beide Schatten
Sah’n wie einer aus
Daß wir so lieb uns hatten
Das sah man gleich daraus
Und alle Leute soll’n es seh’n
Wenn wir bei der Laterne steh’n
Wie einst Lili Marleen.
Schon rief der Posten,
Sie blasen Zapfenstreich,
Es kann drei Tage kosten –
Kamerad, ich komm ja gleich
Da sagten wir auf Wiedersehen
Wie gerne wollt ich mit dir gehen
Mit dir, Lili Marleen.Deine Schritte kennt sie,
Deinen schönen Gang
Alle Abend brennt sie,
Doch mich vergaß sie lang
Und sollte mir ein Leid gescheh’n
Wer wird bei der Laterne stehen
Mit dir Lili Marleen?

Aus dem stillen Raume,
Aus der Erde Grund
Hebt mich wie im Traume
Dein verliebter Mund
Wenn sich die späten Nebel drehn
Werd‘ ich bei der Laterne steh’n
Mit dir Lili Marleen.

Der Text von Leip allein hätte es wohl kaum geschafft, sich Weltgeltung zu verschaffen. Selbst als ihm Norbert Schultze 1938 die bis heute allenthalben bekannte Melodie unterlegte, war der Durchbruch noch nicht vorhersehbar. Der stellte sich erst unter den grausamen Umständen des 2. Weltkriegs ein. Nach einigem Zögern schickten die Nazis das nicht für sie geschaffene Lied – Schultze war wohl ein eher harmloser Mitläufer – „an die Front“, und zwar erstmals 1941 über den deutschen Soldatensender Belgrad und gesungen von Lale Andersen. Doch bald erwies sich diese Mission als Bumerang. England machte das Lied, nun gesungen von Marlene Dietrich, zur Erkennungsmelodie seiner an die deutschen Soldaten gerichteten und vom britischen Rundfunk ausgestrahlten Propagandasendungen. Natürlich war es den deutschen Soldaten bei Strafe verboten, „Feindsender“ zu hören, doch viele sollen es trotzdem getan haben – allein wegen der bewegenden Worte und der schöne Melodie von „Lili Marleen“. – Interessant ist die Frage: Warum ließen beide Sender das Lied von Frauen singen, obwohl sein Text ja die Sehnsucht eines Mannes ausdrückt?

Zurück schließlich zu Stille Nacht, heilige Nacht: Auch dieses Lied gibt es in einer „Silent Night“-Version von Elvis Presley (auf einer Schallplatte von 1957).