Haus der deutschen Sprache
Deutsch - gestern und heute

Südtirol

Südtirol und die deutsche Sprache

Von Kurt Gawlitta

Der deutsche Urlauber in Südtirol erlebt mit Staunen, wie Mehrsprachigkeit manchmal gelingen kann. Jede Verkäuferin, jeder Kellner antwortet auf Deutsch oder Italienisch, je nachdem, wie der Tourist ihn anspricht. Sie tun dies mit beneidenswerter Leichtigkeit.

Diese vordergründige Eleganz im Alltagswortschatz besagt freilich wenig darüber, wie weit Mehrsprachigkeit im Alltag in den Städten und Dörfern verankert ist. Dort spricht im Wesentlichen jeder weiter seine Sprache. Die überwunden geglaubte hässliche Vergangenheit ließ grüßen, als 2002 der Friedensplatz in Bozen nach einer Abstimmung in dieser Stadt, die eine zu 70% italienischsprachige Bevölkerung hat, wieder Siegesplatz heißen sollte. Dies ist der alte Namen aus der Zeit des Faschismus. Der deutsche Tourist bemerkt von all dem nichts, wenn er nicht die Einheimischen auf die politische Situation anspricht, das lokale Rundfunk- oder Fernsehprogramm nutzt oder die Zeitung studiert.

Südtirol als Teil Italiens

Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts träumte das staatlich geeinte Italien von der sicheren Brennergrenze. Nach Ausbruch des 1. Weltkriegs versprachen die Gegner Deutschlands und Österreichs in einem Geheimvertrag dem bis dahin unentschlossenen Italien, wenn es an ihrer Seite in den Krieg einträte, das deutschsprachige Südtirol als Kriegsbeute. Nachdem Italien auf ihrer Seite gekämpft hatte, verfuhren die Alliierten nach dem 14-Punkteprogramm des amerikanischen Präsidenten Wilson. “Die Berichtigung der Grenzen Italiens“ (Punkt Nr. 9) sollte nach “den genau erkennbaren Abgrenzungen der Nationen“ erfolgen.

Wappen Südtirols
Wappen von Südtirol

Dazu konnten sich die Sieger auf die Arbeit von Ettore Tolomei stützen. Er hatte zuvor bereits sämtliche Ortsnamen italienisiert, so dass “bewiesen“ werden konnte, es habe sich schon immer um ein italienischsprachiges Gebiet gehandelt. Nach der Besetzung Südtirols begann, vor allem unter Mussolini, eine systematische Italienisierung. Die deutsche Sprache wurde als Amtssprache und Sprache der Schule verboten. Durch organisierten Zuzug bekamen die Stadt Bozen sowie weitere kleinere Gemeinden ein italienischsprachiges Übergewicht.
Zum Ende des 1. Weltkrieges lebten in Südtirol (italienisch: Alto Adige) etwa 4% Italiener, in den 1950er Jahren waren es 34%. Hitler opferte die Erwartungen der Südtiroler dem Einvernehmen mit seinem Partner Mussolini. Ihnen wurde lediglich die Option eingeräumt, entweder nach Deutschland auszuwandern oder endgültig italienisiert zu werden. Etwa 80.000 wanderten aus, ungefähr 20.000 kehrten nach dem 2. Weltkrieg zurück.

Südtirol: Autonomie nach 73 Jahren

Nach dem 2. Weltkrieg kam wieder Bewegung in die Sache der Südtiroler. Zunächst forderten sie zwar das Selbstbestimmungsrecht, aber ohne Erfolg. Österreichs Außenminister Gruber handelte 1946 mit Italiens Ministerpräsidenten De Gasperi den Vertrag von Paris aus. Das Abkommen sah besondere Schutzmaßnahmen vor, darunter die Gleichstellung der deutschen Sprache in den öffentlichen Ämtern und Institutionen, die Wiedererrichtung der deutschen Schulen und Einführung des Proporzes im Öffentlichen Dienst. Dennoch machte Italien in der praktischen Umsetzung durch das erste Autonomiestatut daraus eine Art Mogelpackung. Die neue autonome Region fasste nämlich Südtirol mit der Provinz Trient (s. Karte) zusammen und schuf dadurch ein Übergewicht der italienischsprachigen Bevölkerung.

Karte von Südtirol

Anhaltende, schließlich sogar gewalttätige Proteste der unzufriedenen deutschsprachigen Volksgruppe und ihres Sprachrohrs, der Südtiroler Volkspartei (SVP), führten dazu, dass Österreich die Sache schließlich zu Beginn der 1960er Jahre vor die Vereinten Nationen brachte. Ergebnis war das 2. Autonomiestatut von 1972 mit der Verankerung einer gewissen Selbstverwaltung im Rahmen der italienischen Verfassung. Erst die Durchführungsverordnungen des sogenannten Südtirolpakets führten zu einer Autonomielösung für die etwa 345.000 Menschen umfassende deutschsprachige Volksgruppe, d.h. etwa 70% der Gesamtbevölkerung der Provinz Bozen. Außer Bozen, Leifers, Branzoll, Pfatten und Salurn, alle südlich von Bozen gelegen, haben heute alle 116 Gemeinden eine deutschsprachige Mehrheit.

Ortsnamen in Südtirol

Schild aus Südtirol

Die dritte Sprache auf diesen Hinweisschildern in Südtirol ist, neben Deutsch und Italienisch, “Ladinisch“, eine romanische Sprache, die von etwa 25.000 Südtirolern östlich der Provinzhauptstadt Bozen/Bolzano gesprochen wird und Minderheitenschutz genießt.

In Südtirol ist die deutsche Sprache nun im mündlichen und schriftlichen Verkehr mit den Ämtern und Gerichten gleichberechtigt. Eine ähnliche Lösung gibt es noch für das Französische in der italienischen Region Aosta. Deutsch ist also in einer Provinz Italiens offizielle Sprache. Die Orts- und Flurnamen waren in langer Tradition deutsch. Zweinamig, nicht zweisprachig, waren in ganz Südtirol lediglich etwa 30 Bezeichnungen (Bozen/Bolzano, Brixen/Bressanone, Neumarkt/Egna usw.). Die faschistischen Dekrete hatten die deutschen Bezeichnungen kurzerhand außer Kraft gesetzt. Es galten und gelten bis heute offiziell lediglich die italienischen Bezeichnungen. Die deutschen Bezeichnungen sind in der Praxis zwar “geduldet“, existieren amtlich aber nicht.

Nun wollen die Südtiroler die faschistischen Dekrete außer Kraft setzen und die historischen Namen wieder offiziell machen. Der Landtag in Bozen kann zur Lösung solcher regionaler Fragen ein vom Autonomiestatut  eingeräumtes Recht zur Gesetzgebung nutzen. Der dazu 2007 eingebrachte Gesetzentwurf war sofort heftig umstritten. Alte Gegensätze brachen wieder auf und führten zu lebhaften öffentlichen Debatten. Durch die Neuwahl des Landtages 2008 ist der alte Gesetzentwurf erst einmal hinfällig. Landschaft in Südtirol

Südtirol und das Selbstbestimmungsrecht

Die Frage nach der Ausübung des Selbstbestimmungsrechts wird zur Zeit von der Mehrheitspartei, der SVP, und ihrem 2008 wiedergewählten Landeshauptmann Luis Durnwalder (vergleichbar einem österreichischen Landeshauptmann oder dem Ministerpräsidenten eines deutschen Bundeslandes) politisch nicht gestellt. Im Parteistatut der SVP ist aber die Forderung nach wie vor enthalten. Die der Republik Italien in jahrzehntelangem Kampf abgetrotzte, einigermaßen alltagstaugliche Selbstverwaltung umfasst inzwischen die Verfügungsbefugnis über 90% des Steueraufkommens sowie Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen im Schul-, Gesundheits- und Verkehrswesen.

Kleinere Parteien wie die “Süd-Tiroler Freiheit“ und andere deutschsprachig orientierte Oppositionsparteien fordern nach wie vor öffentlich die Selbstbestimmung. Überraschenden Auftrieb erhielt diese Haltung durch eine Initiative des früheren Staatpräsidenten Francesco Cossiga im Jahre 2006 im italienischen Parlament. Sein Konzept umfasste eine Volksabstimmung zur Ausübung des Selbstbestimmungsrechts einschließlich der Bereitschaft Italiens, je nach Ergebnis der Abstimmung, eine Abspaltung des Gebiets hinzunehmen. Die Haltung der SVP, die nicht an die politische Ernsthaftigkeit des Vorschlags glaubte, veranlasste Cossiga, die Initiative wieder zurückzuziehen, ehe sie im Senat erörtert werden konnte.

 

Südtirol und die deutsche SpracheDie deutschsprachigen Südtiroler sprechen im Alltag unter sich überwiegend Dialekt. Das ist nicht anders als in vielen Gegenden Deutschlands oder Österreichs. Allerdings ist die Vorliebe für den Dialekt ähnlich wie in der Schweiz kaum von der beruflichen Stellung oder von der sozialen Schicht abhängig. Die praktische Bedeutung des Hochdeutschen dürfte aber in Südtirol größer als in der Schweiz sein. Das Zusammenleben der Sprachgruppen ist in Südtirol, vielleicht etwas stärker als in der Schweiz, Bestandteil des Alltags, denn die Sprachgruppen leben nicht wie in der Schweiz getrennt in verschiedenen Landesteilen. Die italienischsprachige Bevölkerung Bozens lebt allerdings weitgehend unter sich.

 

 Alto Adige
Die in der Schule unterrichtete Sprache, ob als Muttersprache oder als Fremdsprache, ist die Hoch- oder Standardversion des Deutschen, denn nur mit ihr gelingt die Verständigung im deutschen Sprachraum von Flensburg bis Salurn, der südlichsten Spitze des deutschen Sprachraumes. Das in der deutschen Schweiz ausgeprägte Bedürfnis nach nicht nur politischer, sondern auch kultureller Abgrenzung gegenüber Deutschland scheint für die Südtiroler eine geringere Rolle zu spielen. Sie haben sich, diesen Eindruck gewinnt der deutsche Beobachter, in ihrer Provinz, die zu den wohlhabendsten Italiens zählt, mit ihrer inzwischen recht brauchbaren Autonomie eingerichtet und rütteln zur Zeit anscheinend nicht an den nationalen Grundfesten Italiens.

Das HDS dankt Dr. Kurt Gawlitta, dem Romanisten und Regionalvorsitzenden ’Berlin/Potsdam’ im ’Verein Deutsche Sprache’, für diesen Text, der hier erstmals veröffentlicht wird.