Haus der deutschen Sprache
Deutsch - gestern und heute

„Mutter“sprache

Früher Spracherwerb

Von Natalie Schwarz

Wann beginnt Sprache?

Der Spracherwerb des Menschen, könnte man denken, beginnt mit dem ersten Wort. Das sprechen Kinder mit durchschnittlich elf Monaten. Das Wort ist schließlich der Grundbaustein der Sprache. Oder gibt es vielleicht andere Elemente, die früher erlernt werden?

Klangliche Merkmale

Um das herauszufinden, müssen wir uns fragen, wie Kinder überhaupt Sprache lernen. Wie können Babys ein Gefühl für Sprache entwickeln und wie – aus einem Schwall von Lauten – Satz-, Wort- und sogar Silbengrenzen heraushören?

Die Antwort: durch klangliche Merkmale, d.h. durch typische Betonungen oder die Satzmelodie, d.h. durch die “Prosodie“. So nennt man die Gesamtheit aller klanglichen Sprachmerkmale, die größer sind als ein einzelner Laut (“Phonem“) wie z.B. p, a, k, sch. Dazu gehört die Betonung in Wörtern, Phrasen und Sätzen. Sie verursacht Lautstärke- und Tonhöhenunterschiede. Weiterhin gibt es unterscheidbare Intonationen und Längen, die sich in Sprechtempo, -rhythmus und -pausen ausdrücken. Elementare Einheiten sind also nicht nur die Wörter. Wie macht sich das im Lernverhalten der jüngsten Kinder bemerkbar?

Durch die Sprachmelodie können sie zusammengehörige Einheiten im Satz erkennen. Der Rhythmus z.B. verbindet durch die Pausen gewisse Einheiten miteinander, trennt andere voneinander. In einem Satz wie “Die schöne Frau tröstet den kleinen Jungen“ nehmen Babys wahr, dass die Pause zwischen “Frau“ und “tröstet“ gemacht wird. Denn im Deutschen intonieren wir eher “Die schöne Frau [Pause] tröstet den kleinen Jungen“ als “Die schöne Frau tröstet [Pause] den kleinen Jungen“, weil wir, ohne zu überlegen, wissen, welche Wörter eine Einheit bilden: “Die schöne Frau“ ist das Subjekt, “tröstet den kleinen Jungen“ sind Prädikat und Objekt.

Aber Babys kennen noch keine Wörter, geschweige denn den Unterschied zwischen Subjekt, Objekt und Prädikat. Wie können sie wissen, welche Einheiten zusammengehören? Sie können es, weil sie – lange bevor sie die ersten Wörter sprechen – fähig sind, den typischen Fluss “ihrer“ Sprache zu erkennen. Dies wiederum ist nur über die ihnen allmählich vertraut werdende Prosodie möglich (siehe oben).

Genauso können Säuglinge die Satzgrenzen identifizieren, indem sie rhythmisch-intonatorische Regelmäßigkeiten der Sprache erkennen. Im Deutschen nimmt die Melodie gegen Ende des Satzes an Intensität ab. Das letzte Wort wird noch einmal betont und ein wenig gedehnt. Dann folgt eine Pause. Der nächste Satz hat eine aufsteigende Melodie und betont meist das erste Wort und in diesem die erste Silbe. Anhand dieser Regelmäßigkeit können Babys sich früh an die Melodie “ihrer“ Sprache gewöhnen und erkennen, wann eine Spracheinheit aufhört und eine neue anfängt.

Wenn also der Spracherwerb eines Kindes nicht mit dem ersten Wort beginnt, wann dann?

Untersuchungen an Neugeborenen

Eine Antwort gibt der Bericht einer Mutter über die Erfahrung, die sie selbst gemacht hat. Von anderen Müttern hatte sie Ähnliches gehört:

In ihrer Schwangerschaft hatte sie viel freie Zeit und schaute sich im Fernsehen regelmäßig eine bestimmte Sendung an. Die begann immer mit der gleichen Anfangsmelodie und diente der Mutter als “Entspannungs-, als Erholungspause“.

Als das Baby dann auf der Welt war, beobachtete sie: Während sie, wie gewohnt, ihre Lieblingssendung sah, war das Kind bereits bei der Anfangsmelodie außergewöhnlich ruhig und aufmerksam.

Zurecht von der Vergleichbarkeit sprachlicher und musikalischer Melodie ausgehend, bestätigte eine Versuchsreihe diese Erfahrung. Sie verglich sieben vier bis fünf Tage alte Neugeborene, deren Mütter sich während der Schwangerschaft täglich eine TV-Sendung mit immer gleicher Anfangsmelodie angeschaut hatten, mit gleichaltrigen Säuglingen, deren Mütter diese Serie während der Schwangerschaft nicht gesehen hatten. Die Melodie wurde allen Neugeborenen vorgespielt. In der ersten Gruppe gab es zwei unruhige Babys, die zu weinen aufhörten, sobald der Vorspann begann. Zur Vergleichsgruppe gehörten vier weinende Säuglinge. Bei denen hatte die Melodie keinen Einfluss auf das Weinen.

Schreiendes KindAndere Forscher untersuchten kürzlich das “Schreimuster“ von Neugeborenen, genauer: die Melodie- und Intensitätskonturen. 30 deutsche sowie 30 französische Babys (aus einsprachigen Familien) mit einem Durchschnittsalter von zwei bis fünf Tagen dienten als Versuchspersonen. Auch hier finden wir ein interessantes Ergebnis: Babys schreien, wie wir in unserer Sprache sprechen, so wie unsere Sätze an- und abschwellen.

Die französischen Babys:
   Schreiendes französisches Baby
und ihre deutschen Kolleg(inn)en:
   Schreiendes deutsches Baby

Was soll das Beispiel mit der TV-Serie, deren Melodie Babys beruhigen kann, und was haben die Schreie der Neugeborenen mit dem Erlernen der Sprache zu tun? Auf jeden Fall das:

Spracherwerb vor der Geburt

Das Sprache-Lernen beginnt nicht erst mit dem 11. Monat, wenn die meisten Kinder “da!“, “Mama“ oder “Papa“ sagen können. Es beginnt auch nicht mit der Lall-Phase, nicht einmal mit der Schrei-Phase gleich nach der Geburt: Spracherwerb beginnt im Mutterleib!

Das HDS wird sich auch um eine Darstellung der enormen Lernleistung der Kinder auf dem Wege von der Schreiphase bis zu “Mama“ und “Papa“ [siehe unten] bemühen.

Die deutschen Neugeborenen erkennen die Prosodie der deutschen Sprache, weil sie pränatale (vorgeburtliche) Erfahrungen damit gemacht haben. Forschungen haben ergeben, dass Embryonen schon vom letzten Drittel der Schwangerschaft an Hörreize wahrnehmen. Die Melodie, den Rhythmus und die Intonation können sie sogar speichern und lernen. Von etwa der 26. Woche an hört der Embryo in der Gebärmutter mit, hört er die Melodie der Wörter.

Wie kann man das feststellen?

Messung der Reaktionen von Embryonen und Neugeborenen

Man kann zum Beispiel die Herzschlagrate messen oder die Körperbewegung sichtbar machen. 2004 haben Forscher Embryonen im letzten Drittel der Schwangerschaft das Wiegenlied von Brahms auf dem Klavier vorgespielt – dieses Lied deshalb, weil sein Tempo dem der mütterlichen Herzschlagrate ähnelt. Gespielt wurde die Melodie in vier verschiedenen Lautstärken. Dabei zeigten die unterschiedlich alten Embryonen auch unterschiedliche Reaktionen.

Etwa 30 Wochen alte Embryonen antworteten auf die relativ laute Version mit erhöhter Herzschlagrate. Die 35 (und mehr) Wochen alten zeigten einen anhaltenden Anstieg der Herzfrequenz, allerdings schon bei geringerer Lautstärke. Zusätzlich konnte man bei ihnen  Körperbewegung feststellen.

Muttersprache: Sprache der Mutter

Es ist bewiesen, dass Neugeborene die mütterliche Stimme anderen Stimmen vorziehen und ihre “eigene“ Sprache fremden Sprachen. Wie ist das möglich?

Lauschender EmbryoSolche Präferenzen entstehen durch pränatale, wiederholte Erfahrungen. Wie kann man das erforschen? Zum Beispiel, indem man die Saugrate misst. In Versuchen hat man wenige Tage alten Neugeborenen zwei Versionen einer Geschichte präsentiert. Die Neugeborenen bekamen Kopfhörer, über die ihnen die Geschichte einmal von der Mutter, einmal von einer anderen Frau vorgelesen wurde.

Währenddessen nuckelten die Kleinen an einem nicht-nahrhaften Schnuller, der an ein Messgerät angeschlossen war. Zuvor hatte man die individuellen Saugmuster der Babys festgestellt. Veränderten die Babys das gemessene Saugverhalten nicht, riefen sie so – von Apparaten unterstützt – die Stimme der fremden Frau ab. Steigerten sie das Saugtempo, bekamen sie die Mutter zu hören. Das eindeutige  Ergebnis: Die meisten Neugborenen verlangten die Mutterstimme und, in Abwandlung des Versuchs, die “eigene“ Sprache – pränatale Erfahrung, erlernte Präferenz.

Wann, noch einmal, beginnt Sprache? Es ist deutlich geworden: sehr früh. Vielleicht nehmen Sie das, falls gerade schwanger, zum Anlass für erhöhte Vorsicht. Wenn Ihnen einmal zum Fluchen (in der dem Fluchen eigenen “Sprachmelodie“) zumute sein sollte: Achtung, Embryo hört mit!

Natalie Schwarz

Natalie Schwarz studiert Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaft in Paderborn. Das HDS dankt ihr für den Text, der, ungekürzt, zunächst als Nr. 12/5 der „Betriebslinguistischen Beiträge“ des “IFB Verlags Deutsche Sprache“ erschienen ist (ifb-verlag.de).