Haus der deutschen Sprache
Gedicht des Monats

Gedicht des Monats März 2011

An S. v. H.

Das Blümchen, das, dem Thal entblüht,
Dir Ruhe gibt und Stille,
Wenn Krampf Dir durch die Nerven glüht,
Das nennst du die Kamille. *)

Du, die, wenn Krampf das Herz umstrickt,
O Freundin, aus der Fülle
Der Brust mir so viel Stärkung schickt,
Du bist mir die Kamille.

 

 

*) Zu Risiken und Nebenwirkungen
fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker.

 

Nett, nicht wahr? Aber gleich ein “Gedicht des Monats“? Das HDS hofft auf das Verständnis seiner Besucher: 2011 ist das 200. Todesjahr eines der größten Dichter deutscher Sprache. Später im Jahr wird noch viel die Rede von ihm sein – bei Gedenkfeiern und in den Medien, hoffentlich auch in der Schule. Das HDS will hier rechtzeitig an ihn erinnern, zu seiner Lektüre ermuntern.

Berühmt ist dieser Dichter wegen seiner Dramen und seiner spannenden und sprachlich faszinierenden Erzählungen – nur eben nicht als Lyriker. Seine Gedichte füllen kaum ein schmales Heftchen. Eines von ihnen muss als Türöffner zum Lyrik-Zimmer im HDS herhalten – dieses halt.

Nein, Heinrich von Kleist (1777-1811) war Dramatiker, Prosa-Erzähler, Kunsttheoretiker und, zuletzt, auch Journalist, aber nicht Lyriker. Sein dichterisches Werk schweigt über die eigene Person, ihre Gefühle, ihre Erfahrungen. Das mag verwundern angesichts all dessen, was wir – aus anderen Quellen, im Wesentlichen aus den Briefen – über seinen schwierigen, unsteten, ja leidvollen Weg durch ein kurzes Leben wissen. In einem seiner wenigen Gedichte, einem sehr frühen, hat er den Wunsch nach Kühlung der Emotionen, seiner Emotionen, in unübertrefflich knapper Form ausgedrückt. Kleist

JÜNGLINGSKLAGE

Winter, so weichst du,
Lieblicher Greis,
Der die Gefühle
Ruhigt zu Eis.
Nun unter Frühlings
Üppigem Hauch
Schmelzen die Ströme –
Busen, du auch!

 

In Frankfurt an der Oder gibt es ein überaus besuchenswertes Kleist-Museum. In dieser Stadt ist der Dichter geboren. Nach dem Tode seines Vaters (1788) wurde er bei einem Berliner Prediger erzogen und trat mit 15 Jahren in ein Potsdamer Garde-Regiment ein. 1793 bis 95 nahm er als Offiziersanwärter am Rheinland-Feldzug der preußischen Armee teil. (Napoleon war da noch kein Thema, sehr wohl aber das vom preußischen Königshaus gefürchtete Virus ’französische Revolution’.) 1799 kehrte er, inzwischen Leutnant, ins Zivilleben zurück. Die ihm verbleibenden zwölf Lebensjahre verbrachte er unterwegs – ohne festen Wohnsitz, könnte man sagen, und auf unsteter beruflicher Suche. Die einzige, ihn aber tragende Konstante war sein literarischer Schöpfungswille. Nicht dass er in diesen wenigen Jahren ein Werk von fast zweitausend Druckseiten geschaffen hat, sollten wir bewundern, sondern dass noch nach zweihundert Jahren fast alles davon lebendig ist und aufregend zu lesen.

Das Jurastudium an der Universität seiner Geburtsstadt gab er nach wenigen Semestern wieder auf und absolvierte ein Praktikum in einem Berliner Ministerium. Seit dieser Zeit, also seit 1800, beschäftigte ihn das Planen einiger Dramen, insbesondere des noch heute immer wieder auf-geführten Trauerspiels “Penthesilea“, fesselnd in der Spannung zwischen sprachlicher Strenge und emotionaler Unbändigkeit – erste Lektüre-Empfehlung des HDS.

 

Penthesilea1801 sieht ihn auf monatelanger Reise (Hessen, Sachsen, Schweiz, Frankreich) mit seiner älteren Schwester Ulrike, und im selben Jahr entsteht die erste Fassung der berühmten Erzählung “Die Verlobung in St. Domingo“, erschienen 1811. 1802 mieten sich die Geschwister in der Nähe von Thun (Schweiz) ein, und Heinrich arbeitete an seinem hintersinnig- satirischen Kriminal-Lustspiel über den niederländischen Dorfrichter Adam, also am Drama “Der zerbrochene Krug“. Das Stück fiel zwar bei seiner Aufführung 1808 in Weimar durch, ist seither aber wohl auf jeder Bühne im deutschsprachigen Raum mit Erfolg aufgeführt worden.

Die Veröffentlichung von Teilen dieses Werks in der Zeitschrift “Phöbus“ begründete Kleist so: “… da dieses kleine, vor mehreren Jahren zusammengesetzte, Lustspiel eben jetzt auf der Bühne in Weimar verunglückt ist: so wird es unsere Leser interessieren, einigermaßen prüfen zu können, worin dies seinen Grund habe.“ Wir müssen heute vermuten, das damalige Publikum habe mit dem kleinbürgerlichen Milieu und seiner Sprache noch nichts anzufangen gewusst, sei peinlich berührt gewesen von dem plumpen Versuch ’Adams’, das unschuldige Mädchen ’Eve’ körperlich zu missbrauchen – noch kein Thema für eine respektable Bühne zu Anfang des 19. Jahrhunderts.

 Der Zerbrochene Krug’Der zerbrochene Krug’. Szene von Adolph Menzel (1815-1905)
 KönigsbergKönigsberg im 19. Jahrhundert Im Sommer 1802, noch während er an diesem Stück schrieb, erkrankte Kleist ernstlich, arbeitete aber weiter an mehreren Dramen. Ein Zusammentreffen mit dem damals hoch geachteten Dichter Christoph Martin Wieland (1733-1813) veranlasste Kleist, ihm nach Weimar zu folgen. Von Wieland und auch aus Kleists Briefen wissen wir, dass er dort an den Schwierigkeiten mit der Vollendung seiner Dramen schier verzweifelte. Offen sprach er von seiner Todessehnsucht, und abermals trat er eine unstete, abenteuerliche Reise an. Die führte ihn über Frankreich zurück nach Potsdam. Nach langem Zögern nahm Ihn der preußische König wieder in seine Dienste und schickte ihn 1805 als Beamten nach Königsberg. Dort erkrankte er wiederum schwer, doch nun gelangen ihm große Fortschritte in seinem dichterischen Schaffen, bei den Erzählungen “Michael Kohlhaas“ (Lektüre-Empfehlung), “Das Erdbeben in Chili“ und “Die Marquise von O.“ so wie bei den Bühnenwerken “Der zerbrochene Krug“ und “Amphitryon“, endlich auch wieder bei “Penthesilea“.
Doch nur ein gutes Jahr nach seiner Ankunft in Königsberg schied Kleist wieder aus dem Beamtendienst aus. Es war das Jahr des militärischen Untergangs Preußens. Beim Versuch, nach Berlin zurückzugelangen, geriet er 1807 für mehrere Monate in französische Gefangenschaft. Dennoch fand in diesem Jahr die Arbeit an “Penthesilea“ und dem historischen Stück “Das Käthchen von Heilbronn“ Kopfzeile Berliner Abendblätterihren Abschluss. Nach Aufenthalten in Dresden und Frankfurt/Oder kehrte Kleist Anfang 1810 nach Berlin zurück, mittellos, gesundheitlich schwach und enttäuscht, dass seine Dramen – Goethe hatte vor allem “Penthesilea“ heftig kritisiert – schlecht oder gar nicht angenommen wurden. Im Oktober begann er mit der Herausgabe der “Berliner Abendblätter“. An diesem Projekt richtete er sich noch einmal auf. Zunächst schien es ja auch ein Erfolg zu werden. Das kleine Blättchen – das war die eine Neuheit – erschien täglich und wurde vom Berliner Publikum gut angenommen, denn – die andere Neuheit – es befriedigte allabendlich den Bedarf an kleinen Sensationen: Unfälle, Feuer, Straftaten und dergleichen. Das zog.

Redaktionelle Mitteilung

Doch schon bald stellte die Berliner Polizeiverwaltung ihre Mitteilungen an die “Abendblätter“ ein, und Kleist begann, das Blatt mit literarischen Texten zu füllen. Alsbald ließ das Interesse an der Zeitung erheblich nach.

Polizeiliche Mitteilung

Immerhin, zwei von Kleists bekanntesten Werken sind in diesen Blättern erschienen, die Erzählung “Das Bettelweib von Locarno“ und, in mehreren Fortsetzungen, die Schrift “Über das Marionettentheater“ mit dieser berühmten Passage:

Ich badete mich … vor etwa drei Jahren, mit einem jungen Mann, überdessen Bildung damals eine wunderbare Anmuth verbreitet war. Er mogte ohngefähr in seinem sechszehnten Jahre stehn, nur ganz Dornausziehervon fern ließen sich, von der Gunst der Frauen herbeigerufen, die ersten Spuren von Eitelkeit erblicken. Es traf sich, daß wir grade kurz zuvor in Paris den Jüngling gesehen hatten, der sich einen Splitter aus dem Fuße zieht; der Abguß der Statue ist bekannt und befindet sich in den meisten deutschen Sammlungen. Ein Blick, den er in dem Augenblick, da er den Fuß auf den Schemel setzte, um ihn abzutrocknen, in einen großen Spiegel warf, erinnerte ihn daran; er lächelte und sagte mir, welch’ eine Entdeckung er gemacht habe. In der That hatte ich, in eben diesem Augenblick, dieselbe gemacht; doch sei es, um die Sicherheit der Grazie, die ihm beiwohnte, zu prüfen, sei es, um seiner Eitelkeit ein wenig heilsam zu begegnen: ich lachte und erwiderte – er sähe wohl Geister! Er erröthete und hob den Fuß zum zweitenmal, um es mir zu zeigen; doch der Versuch, wie sich leicht hätte voraussehn lassen, mißglückte. Er hob verwirrt den Fuß zum dritten und vierten, er hob ihn wohl noch zehnmal: umsonst! er war außer Stand, die-selbe Bewegung wieder hervorzubringen – was sag’ ich, die Bewegungen, die er machte, hatten ein so komisches Element, daß ich Mühe hatte, das Gelächter zurückzuhalten. –

Von diesem Tage, gleichsam von diesem Augenblick an, ging eine unbegreifliche Veränderung mit dem jungen Menschen vor. Er fing an, Tage lang vor dem Spiegel zu stehn; und immer ein Reiz nach dem anderen verließ ihn. Eine unsichtbare und unbegreifliche Gewalt schien sich wie ein eisernes Netz um das freie Spiel seiner Gebährden zu legen …

Die Arbeit an der Zeitung und überhaupt sein Aufenthalt in Berlin ließen für kurze Zeit noch einmal das aktuelle Geschehen in Preußen an Kleist heran. Gleich in den ersten Ausgaben begrüßte er zum Beispiel die Gründung einer Berliner, nämlich der heutigen Humboldt-Universität (1810). Sie, so hoffte er, werde das geistige Klima in einem wieder erstarkenden Preußen auffrischen. – Königin Luise, Gattin von Friedrich Wilhelm III., war schon zu Lebzeiten eine geliebte Legende, ein Symbol der Hoffnung auf ein besseres Preußen. Zu ihrem 34. Geburtstag im März 1810, wenige Monate vor ihrem frühen Tode, gratulierte ihr Kleist mit diesem Sonett:

Erwäg ich, wie in jenen Schreckenstagen,
Still deine Brust verschlossen, was sie litt,
Wie du das Unglück, mit der Grazie Tritt,
Auf jungen Schultern herrlich hast getragen,

Wie von des Kriegs zerrißnem Schlachtenwagen
Selbst oft die Schar der Männer zu dir schritt,
Wie, trotz der Wunde, die dein Herz durchschnitt,
Du stets der Hoffnung Fahn’ uns vorgetragen:

O Herrscherin, die Zeit dann möchte ich segnen!
Wir sahn dich Anmuth endlos niederregnen,
Wie groß du warst, das ahndeten wir nicht!

Dein Haupt scheint wie von Strahlen mir umschimmert.
Du bist der Stern, der voller Pracht erst flimmert,
Wenn er durch finstre Wetterwolken bricht.  Königin Luise

Nur wenige Monate konnten die “Abendblätter“ Kleist ein wenig Halt geben in seiner immer bedrängenderen Verzweiflung. Ende März 1811 erschien die Zeitung zum letzten Mal. In Kleists privaten Mitteilungen aus dieser Zeit wird deutlich, dass er selbst sich bewusst in die Richtung bewegte, die Goethe schon 1809 erkannt hatte:

Ich habe ein Recht, Kleist zu tadeln, weil ich ihn geliebt und gehoben habe; aber sei es nun, daß seine Ausbildung, wie es jetzt bei vielen der Fall, durch die Zeit gestört wurde, oder was sonst für eine Ursache zum Grunde liege; genug, er hält nicht, was er zugesagt. Sein Hypochonder ist zu arg; er richtet ihn als Menschen und Dichter zugrunde.

Wie nahe Kleist der Tod damals als bewusst zu treffende Entscheidung war, wird in seinem letzten Drama (1809/10) erkennbar: “Prinz Friedrich von Homburg“. Der brandenburgische Prinz greift 1675 in der Schlacht von Fehrbellin den schwedischen Feind gegen das Verbot des Kurfürsten an – und siegt. Doch auf Befehlsverweigerung steht die Todesstrafe, und Friedrich akzeptiert sie, obwohl er sich hätte herauswinden können.

1809 lernte Kleist Henriette Vogel kennen, drei Jahre jünger als er, verheiratet und, so lässt sich vermuten, todkrank. Mancherlei geistige und musische Neigungen verbanden die beiden und bald auch der Wunsch zu sterben, gemeinsam zu sterben. Von Henriette wissen wir nur, was Kleist am 9. November 1811 an eine ältere Verwandte und Vertraute schrieb, an Marie von Kleist:

 … Ich habe Dich während Deiner Anwesenheit in Berlin gegen eine andere Freundin vertauscht; Aber, wenn Dich das trösten kann, nicht gegen eine, die mit mir leben, sondern die im Gefühl, daß ich ihr ebenso wenig treu sein würde wie Dir, mit mir sterben will. Mehr Dir zu sagen, läßt mein Verhältnis zu dieser Frau nicht zu. Nur soviel wisse, daß meine Seele, durch die Berührung mit der ihrigen, zum Tode ganz reif geworden ist; daß ich die ganze Herrlichkeit des menschlichen Gemüts an dem ihrigen ermessen habe, und daß ich sterbe, weil mir auf Erden nichts mehr zu lernen und zu erwerben übrig bleibt. Lebe wohl! … Grabinschrift

Am Berliner Wannsee erschoss Kleist am Morgen des 21. November Henriette und sich selbst.