Haus der deutschen Sprache
Gedicht des Monats

Gedicht des Monats Juli 2011

Wer gap dir, Minne, den gewalt,
daz dû doch sô gewaltic bist?
dû twingest beide junc und alt:
dâ für kan nieman keinen list.
nû lob ich got, sit dîniu bant
mich sulen twingen, deich sô rehte hân erkant
wâ dienest werdeclîchen lît.
dâ vone kum’ ich niemer.
gnâde, küniginne,
lâ mich dir leben mîne zît!

bezwingst
dagegen hat niemand eine
seit/da – dein
mich fesseln soll  –  dass ich  –  habe
wo  – [Minne]-Dienst  –  würdevoll
komme ich ab  –  niemehr
Königin
lass

Diese mittelhochdeutschen Verse, immerhin inzwischen um die achthundert Jahre alt, kann man im Original fast mühelos verstehen. Auch dass “Minne“ im ersten Vers nicht der Name einer bestimmten Frau ist, ist schnell erkannt. Die Rede ist von der Liebe an sich, genauer von der Verehrung einer gar nicht erreichbaren, gesellschaftlich hochgestellten Frau. Im Mittelalter gab es recht strenge Situations- und Formvorgaben für diese Art der gedichteten Huldigung, also für den sogenannten “Minnesang“. “-sang““ weist darauf hin, dass es zu solchen Minnegedichten Melodien gab, mit denen sie – meist wohl von ihrem Verfasser selbst – an den Fürstenhöfen vorgetragen wurden.

Eine große Zahl dieser Minnelieder, durchweg zunächst nur
mündlich überliefert, wurde im 14. Jahrhundert handschriftlich
fixiert und in umfangreichen Bänden gesammelt. Die größte,
pracht- und wertvollste unter ihnen ist die “Manessische
Liederhandschrift“, die heute in der Heidelberger Universitäts-
Bibliothek aufbewahrt wird. Sie enthält Werke von weit über
einhundert Dichtern des 12. und 13. Jahrhunderts, daneben
zeitgenössische, meist stark stilisierte Bilder der Autoren.
Die sind oft das einzige überlieferte “Porträt“ eines solchen Dichters.
 Manessische HandschriftSeite aus dem Codex Manesse
Walther von der Vogelweide
Auch dem Verfasser unseres Eingangsgedichts ist nur dieses eine Bild in der genannten Sammlung mit Gewissheit zuzuordnen. Es zeigt den wohl berühmtesten der deutschsprachigen Lyriker des Mittelalters, Walther von der Vogelweide (1170- 1230).Wir wissen wenig über seine Herkunft und sein Leben. Geburts- und Todesjahr lassen sich nur interpolieren. Wann er sich an welchen fürstlichen Höfen aufhielt, kann man allenfalls aus der gedichteten Nennung von Personen, Krönungen, Nachfolgestreitigkeiten und anderer historisch belegter Daten rekonstruieren. Das heißt, seine Biographie erschließt sich, wo überhaupt, allein aus seiner Dichtung. Alles spricht freilich für den süddeutschen Raum und dafür, dass er, um von der Dichtung, von seinem Singen leben zu können, die Fürstenhöfe immer wieder wechselte. Deren gab es damals viele, und die lagen untereinander meist im Streit um Führungsansprüche und dergleichen. Für welchen weltlichen Fürsten Walther in diesem oder jenem Gedicht Partei ergriff, mag auch davon abhängig gewesen sein, wer ihn für seine Liederauftritte am großzügigsten entlohnte. Er war ganz geschickt im Preisen der ihm jeweils gewogensten Fürsten und im Verdammen oder Verspotten ihrer Widersacher.

Ich saz ûf eime steine
und dahte bein mit beine,  deckte
dar ûf satzt’ ich den ellenbogen;
ich het’ in mîne hant gesmogen   geschmiegt
mîn kinn’ und ein mîn wange
dô daht’ ich mir vil ange …  sorgfältig

Auf jeden Fall, er ist viel herumgekommen. Südwestdeutschland und Österreich, bestenfalls noch der Balkan, waren für ihn “die Welt“.

Ich hân lande vil gesehen
und nam der besten gerne war:
übel müeze mir geschehen,
kund’ ich ie mîn herze bringen dar
daz im wol gevallen
wolde vremeder site.
nû waz hulfe mich, ob ich unrehte strite?
tuischiu zuht gâht vor in allen.

Von der Elb’ unz an den Rîn
und her wider unz an Ungerlant
mugen wol die besten sîn,
die ich in der werlte hân erkant.
kann ich rehte schouwen
guot gelâz und lîp.
sam mir got, sô swüer’ ich wol daz hie diu wîp
bezzer sint dann’ ander frouwen.

Tiusche man sint wol gezogen,
rehte als engel sint diu wîp getân.
swer si schildet, derst betrogen
ich enkan sîn anders niht verstân.
tugent und reine minne,
swer die suochen will,
der sol komen in unser lant:
da ist wünne vil:
lange müeze ich leben dar inne!

könnte – dazu

fremdes  – Art, Wesen

deutsche Zucht – ihnen

bis

habe
schauen
Gestalt  – Leib
ist Gott mit mir
Frauen

deutsche

wer – schilt – der ist
kann – ihn

wer auch immer

Freude
möge       Wörterbuch

Als Minnesänger scheint Walther zunächst im Schatten des etwa eine Generation früher geborenen Rei(n)mar (“der Alte“) gestanden zu haben. Von dessen Leben wissen wir noch weniger als von dem Walthers. Er scheint aber beliebt gewesen zu sein. Vermutlich stammte er aus dem Elsass. Gestorben sein muss er spätestens um 1210. Vermutlich sind er und Walther sich am Wiener Hof begegnet. Richtig gemocht haben sie sich aber wohl nicht. Reimar war noch der Sänger der “Hohen Minne“, das heißt Gegenstand seiner Huldigungs-Poesie durfte wirklich nur eine Frau – wohl nicht einmal eine bestimmte – ganz oben in der Adelswelt sein:

Ich wirb’ umbe allez, daz ein man
ze weltlîchen vröiden iemer haben sol.
daz ist ein wîp, der ich enkan
nâch ir vil grôzem werde niht gesprechen wol.
Lobe ich si, sô man ander vrouwen tuot,
daz engenimet si niemer tac von mir vür guot.
doch swer ich des, si ist an der stat,
dâs ûz wîplîchen tugenden nie vuoz getrat.
daz ist in mat!
ich bemühe mich
zu – jederzeit
Frau, von deren sehr hohem Wert
ich nicht recht sprechen kann.
wie man es bei anderen Frauen tut
nimmt sie– niemals – als gut
schwöre – sie ist an einer Stelle
wo sie nie einen Fuß außerhalb … gesetzt hat
ihnen [den anderen] das Matt [Niederlage]
 ReimarRei(n)mar der Alte. Codex Manesse

Aber an diese unpersönliche Form der “Hohen Minne“, der auf Distanz an die “hohe Frau“ gerichteten Lieder, mag sich Walther nicht mehr immer halten. Er gehört zu einer neuen Generation. Zwar sprechen auch seine Lieder ’zu’ einer oder ’über’ eine Frau, doch man gewinnt den Eindruck, dass er, hin und wieder wenigstens, eine bestimmte Frau meint oder sie zu meinen dichtet. Bekannt ist sein Erlebnisgedicht (anknipsen, dort im 3. Abschnitt) Unter der Linden, in dem Walther die Dinge in eleganter Bildlichkeit und zugleich in für seine Zeit skandalöser Deutlichkeit anspricht.

Etwas weniger bekannt, aber durchaus beachtlich sind Walthers Verse, mit denen er seine Zuneigung zu einer Frau, zu einem einfachen Mädchen dichtet und sich im selben Gedicht auch gleich gegen den Vorwurf verteidigt, damit habe er die Regeln der Hohen Minnedichtung verletzt:

Herzeliebez frowelîn,
got gebe dir hiute und iemer guot!
kund ich baz gedenken dîn,
des hete ich williclîchen muot.
waz mac ich dir sagen mê,
wan daz dir nieman holder ist?
dâ von ist mir vil wê.

Sie verwîzent mir daz ich
ze nidere wende mînen sanc […]   Fräulein, Mädchen
heute
könnte ich nur besser von dir sprechen
danach stünde mir der Sinn
kann – mehr
als dass – zugeneigter
sehr schmerzlich

tadeln mich
tief richte

Was sicher schien – Walther hat Zweifel und Fragen:

Saget mir ieman, waz ist minne?
weiz ich des ein teil, sô wist ichs gerne mê.
der sich baz denn ich versinne,
der berihte mich durch waz si tuot sô wê.
minn’ ist minne, tuot si wol:
tuot si wê, so enheizet si niht rehte minne.
sus enweiz ich wie si danne heizen sol.
davon – wüsste
besser als ich darauf versteht
mir

heißt nicht
umso weniger weiß ich

Die so zahlreich überlieferten Gedichte Walthers belegen: Er war durchaus nicht nur “Minnesänger“ (das war er auch, und er lebte ja davon), sondern er bezog immer wieder – poetisch – Stellung in dem heute unübersichtlichen politischen Gerangel der fürstlichen Szenerie im süd-, südwest- und südostdeutschen Sprachraum. Da ist nicht immer leicht eine gerade Linie zu erkennen: Friderich ûz Ôsterrich, keiser Otto, künece Philippe, ir fürsten … Doch ganz klar ist seine Stellungnahme in der Frage, was der Pabst in der politischen Szene nördlich der Alpen zu suchen habe: Nichts! Immer wieder nimmt er den Mann in Rom, Innozenz III., aufs Korn und seine in den deutschen Landen tätigen Pfaffen-Legionen. Sie sollen sich, fordert Walther, auf ihre geistlichen Aufgaben beschränken, aus der Politik heraushalten. Und nicht so gierig sein!

Im fernen Rom:    Ze Rôme hôrt’ ich liegen
und zwêne künege triegen.
Dâ von huop sich der meiste strît,
der ê wart oder iemer sît,
dô sich begunden zweien
pfaffen unde leien.
Dâ was ein nôt vor aller nôt:
lîp unde sêle lac dâ tôt.
Die pfaffen striten sêre,
doch wart der leien mêre.
Diu swert, diu leiten si dernider;
si griffen zuo der stôle wider:
[…]
Dô hôrte ich verre in einer klûs
vil michel ungebære:
dâ weint’ ein klôsenære,
er klagete gote sîniu leit:
„Ôwê, der bâbest ist ze junc:
hilf, herre, dîner kristenheit.“

Nicht nur im fernen Rom:

Ir pfaffen, ezzent hüenr und trinkent wîn
unde lânt die tiutschen ,,, fasten.

Das Geld soll hier bleiben:

Sagt an, hêr Stoc, hât iuch der bâbest her gesendet,
daz ir in rîchet und uns Tiutschen ermet unde pfendet?
hêr Stoc, ir sît ûf schaden her gesant,
daz ir ûz tiutschen liuten suochet toerinne und narren. 
wie sie logen
zwei – betrogen
daraus erhob
je war und jemals
entzweien
war – größer als alle
Leib

wuchs die Zahl der
Schwerter – legten – nieder
Stola, geistliches Gewand

fern – Klause
sehr großes Klagen
Einsiedler
sein
Papst – zu

essen Hühner
lassen – Deutschen

Opferstock i.d. Kirche – euch – Papst
Ihr – ihn – bereichert – ärmer macht      […]

unter den deutschen Leuten

Ruhiger, fast philosophisch wird Walthers Ton beim Rückblick. Die erste der drei langen Strophen seine Alters-Elegie:

Owê, war sint verswunden alliu mîniu jâr!
ist mir mîn leben getroumet, oder ist ez wâr?
daz ich je wând’ ez wære, was daz allez iht?
dar nâch hân ich geslâfen und enweiz es niht.
nû bin ich erwachet, und ist mir unbekant
daz mir hie vor was kündic als mîn ander hant.
liut unde lant, dârinne ich von kinde bin erzogen,
die sint mir worden frömde reht als ez sî gelogen.
die mîne gespilen wâren, die sint træg’ unt alt.
vereitet is daz velt, verhouwen ist der walt:
wan daz daz wazzer fliuzet als ez wîlent flôz,
für wâr mîn ungelücke wand’ ich wurde grôz.
mich grüezet maneger trâge, der mich bekand’ ê wol.
diu welt ist allenthalben ungenâden vol.
als ich gedenk’ an manegen wünneclîchen tac,
die mir sint enpfallen als in daz mer ein slac,
iemer mêre ouwê.
Wohin – meine
geträumt – wahr
was – wähnte – war – nicht
demzufolge – weiß nicht
zuvor – bekannt – wie eine meiner Hände
Leute
fremd – so, als ob

abgebrannt – abgehauen
flösse nicht –  wie – weiland
dächte – würde
mancher – träg – einst
Ungnade
wenn – manchen – freudig
entfallen – wie – Schlag
für immer:

“Owê“ und “ouwê“ sind oft wiederkehrende Gefühls-Akzente bei Walther. Die muss man nicht so dramatisch nehmen, wie sie uns heute klingen. Vielleicht “ach!“? Der melancholischen, eher ruhigen Betrachtung des Alters und des Alterns folgen in den weiteren Versen allerdings klagende Beobachtungen zu all dem, was nicht mehr so ist wie in der “guten alten Zeit“: “Owê wie jaemerliche junge liute tuont, den [denen] nû vil [sehr] riuweclîche [traurig] ir gemüete stuont [steht] […].

Einmal freilich, das muss wohl auch in einem späteren Lebensabschnitt gewesen sein, dichtet Walther rundum zufriedene Verse. Sein ganzes Leben lang hatte er als ärmlicher Sänger an immer wechselnden Höfen davon geträumt, eines Tages seine wirtschaftlichen Sorgen loszuwerden. Dieser Traum ging in Erfüllung. Wir wissen nicht wann, durch welchen Fürsten und in welcher Form. Was er jubelnd besingt, ist einfach sein “Lehen“, die Schenkung. Ein Landgut? Eine Rente? Eine feste Anstellung? Eine größere Summe? Wir wissen es nicht:

Ich hân mîn lehen, al die werlt, ich hân mîn lêhen.
nû enfürht’ ich niht den hornunc an die zêhen,
und will alle bœse hêrren dester minre flêhen.
milte künec hât mich berâten,
daz ich den sumer luft und in dem winter hitze hân.
mîn nâhgebûren dunke ich verre baz getân:
in butzen wîs alsô si tâten.
ich bin ze lange arm gewesen ân mînen danc.
ich was sô voller scheltens daz mîn âtem stanc:
daz hât der künec gemachet reine, und dar zuo mînen sanc.
[höre es[ alle Welt
fürchte – [den kalten] Februar
geizigen – desto weniger anflehen
mildtätige – versorgt
im Sommer
meinen Nachbarn  – sehr – besser
wie ein Gespenst  – so wie sie’s taten
zu – ohne – meine Absicht
Schimpfen
König – bereinigt – obendrein – Sang

Auch von diesem “Ende gut, alles gut“ wüssten wir nichts, hätte Walther es nicht besungen.

“Liebe“, mittelalterlich stilisiert als Minne oder zeit- und grenzenlos präsent, hat in den 23 Amts-sprachen der Europäischen Union 21 verschiedene Bezeichnungen. Nur Spanisch und Portugiesisch teilen sich “amor“, Tschechisch und Slowakisch “làska“. – Im türkischsprachigen Teil des Unionsmitglieds Zypern sagt man “sevgi“.

Liebe EU