Haus der deutschen Sprache
Gedicht des Monats

Gedicht des Monats August 2011

BETRACHTUNG DER ZEIT

Mein sind die Jahre nicht,
Die mir die Zeit genommen;
Mein sind die Jahre nicht,
Die etwa möchten kommen;
Der Augenblick ist mein,
Und nehm ich den in acht
So ist der mein,
Der Jahr und Ewigkeit gemacht.

 

Welch eine überraschende Dreiteilung der Zeit in die lange Vergangenheit, die lange Zukunft – beide gehören nicht mir, dem hier für uns alle sprechenden “ich“ – und in den “Augenblick“, in dem Vergangenheit und Zukunft aneinanderstoßen. Wir sprächen heute wohl von der “logischen Sekunde Null“. Nur die gehört “mir“.

Immerhin jedoch: dieser Augenblick ist mehr als Null. Auch wenn er gleich, in der Zukunft also, wieder der Vergangenheit angehören wird – als Sekunde eines ganzen Jahres, als Staubkorn der Ewigkeit, der unermesslichen Summe von Vergangenheit und Zukunft.

Überraschend wird dieser Versuch, die Zeit und “meinen“ Platz darin derart logisch zu “betrachten“, aber eigentlich erst, wenn wir auf den Dichter schauen, dem diese Verse gehören:

Andreas Gryphius (1616-64) aus Glogau (heute Glogów) in Schlesien war von Geburt österreichischer Böhme (Schlesien wurde erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts von Friedrich “dem Großen“ für Preußen gewonnen). Fast das ganze Leben Gryphius’ und sein umfangreiches lyrisches Werk sind gekennzeichnet von den Schrecken des Dreißigjährigen Krieges (1618-48) und damit auch von dem Glauben, von der Hoffnung, das Ende des irdischen Lebens werde das Tor in eine bessere, eine hellere, in die eigentliche Welt öffnen. Gryphius

Eins von Gryphius’ bekannteren Gedichten, ABEND, mündet schon nach wenigen beschaulich-versöhnlichen Versen wieder ein in den Übergang aus diesem in das andere, bessere Leben:

Der schnelle Tag ist hin, die Nacht schwingt jhre fahn
Vnd führt die Sternen auff. Der Menschen müde scharen
Verlassen feld vnd werck. Wo Thier vnd Vögel waren
Trawrt jtzt die Einsamkeit. Wie ist die zeit verthan! (trauert)

Der port naht mehr vnd mehr sich zu der glieder Kahn. (Hafen)
Gleich wie diß licht verfil, so wird in wenig Jahren
Ich, du, vnd was man hat, vnd was man siht hinfahren.
Diß Leben kömmt mir vor alß eine renne bahn.

Laß, höchster Gott, mich doch nicht auff dem Laufplatz gleiten,
Laß mich nicht ach/ nicht pracht, nicht lust, nicht angst verleiten.
Dein ewig-heller glantz sey vor vnd neben mir.

Laß, wenn der müde Leib entschläfft, die Seele wachen
Vnd wenn der letzte Tag wird mit mir abend machen,
So reiß mich auß dem thal der Finsternüß zu Dir.

Die Gewissheit, die Zeit nach dem Tode werde das eigentliche Leben sein, ist ein Leitgedanke der ganzen Barocklyrik des 17. Jahrhunderts. Doch von diesem besseren nächsten Leben wissen die Dichter nichts Konkretes zu berichten.

Auch im 18. Jahrhundert weiß der evangelisch-pietistische Kirchenlieddichter Gerhard Tersteegen (1697-1769) aus dem Rheinland natürlich nichts über dieses Leben nach dem Leben. Doch vermag er, nach der Art der Pietisten, die Rückkehr zu Gott, das Wiedereintauchen in die “schöne Ewigkeit“ als Ziel des irdischen Irrens in der Zeit gläubig-innig als Lohn zu besingen. Auch für ihn symbolisiert der Abend den Abschied vom Hier und Jetzt: Tersteegen

 ABENDOPFER

Nun sich der Tag geendet,
Mein Herz zu dir sich wendet
Und danket inniglich.
Dein holdes Angesichte
Zum Segen auf mich richte,
Erleuchte und entzünde mich.Ich schließe mich aufs neue
In deine Vatertreue
Und Schutz und Herze ein.
Die fleischlichen Geschäfte
Und alle finstern Kräfte
Vertreibe durch dein Nahesein.
Daß du mich stets umgibest,
Daß du mich herzlich liebest
Und rufst zu dir hinein,
Daß du vergnügst alleine,
so wesentlich, so reine,
Laß früh und spät mir wichtig sein!Ein Tag, der sagt dem andern,
Mein Leben sei ein Wandern,
Zur großen Ewigkeit.
O Ewigkeit, so schöne,
Mein Herz an dich gewöhne,
Mein Heim ist nicht in dieser Zeit

Wer so glauben, vertrauen und verheißen kann, braucht die Schrecken des irdischen Lebens nicht erst drastisch auszumalen, die Menschen nicht in Reimen daran zu erinnern, was sie ohnehin erleben, erlebt und folglich vor Augen haben.

Gryphius, der Lyriker, verzichtet darauf aber keineswegs. Noch heute packt es uns, die wir selbst Schlimmes erlebt haben oder aus den Berichten der Eltern und Medien kennen, wie er das Leid seiner Zeitgenossen in die berühmten Verse THRÄNEN DES VATERLANDES, ANNO 1636 fasst (enthält Vers 1 ein Wortspiel?):

Wir sind doch nunmehr gantz, ja mehr denn gantz verheeret!
Der frechen Völcker Schaar, die rasende Posaun
Das vom Blutt fette Schwerdt, die donnernde Carthaun
Hat aller Schweiß und Fleiß und Vorrath auffgezehret.

Die Türme stehn in Glutt, die Kirch ist umgekehret.
Das Rathauß ligt im Grauß, die Starcken sind zerhaun,
Die Jungfern sind geschänd’t, und wo wir hin nur schaun
Ist Feuer, Pest und Tod, der Hertz und Geist durchfähret.

Hir durch die Schantz und Stadt rinnt allzeit frisches Blutt.
Dreymal sind schon sechs Jahr, als unser Ströme Flutt,
fast verstopfft, sich langsam fort gedrungen

Doch schweig ich noch von dem, was ärger als der Tod,
Was grimmer denn die Pest und Glutt und Hungersnoth
Das auch der Seelen Schatz so vilen abgezwungen.
Geschütz
Stadbefestigung
1618 + 18 = 1636

ShakespeareShakespeare Zum zweiten Mal tritt uns Gryphius hier mit einer damals im deutschsprachigen Raum neuen, bald modischen Gedichtstruktur gegenüber, dem Sonett. Der große Engländer, William Shakespeare (1564-1616), dessen erst noch entstehendes Werk Gryphius fasziniert verfolgte, war sozusagen der nördliche, germanische Gewährsmann für die bewunderte neue Form, während Gryphius’ schlesischer Landsmann Martin Opitz (1597-1639) in seinem wegweisenden “Buch von der Deutschen Poeterey“ (1624) stärker unter romanischem, in erster Linie italienischem Einfluss (z.B. Petrarca, Dante) seinen Landsleuten diese Form zu erklären und geradezu nahezulegen versuchte:

„Wann her das Sonnet bey den Franzosen seinen namen habe / wie es denn auch die Italiener so nennen / weiß ich anders nicht zue sagen / als dieweil Sonner klingen oder wiederschallen / vnd sonnette eine klingel oder schelle heist […] Vnd bestetigen mich in dieser meinung etzliche Holländer / die dergleichen carmina auff jhre sprache klincgetichte heissen[…].“

„Ein jeglich Sonnet hat vierzehen verse / vnd gehen der erste / vierdte / fünffte vnd achte auff eine endung des reimens auß; der andere / dritte / sechste vnd siebende auch auff eine. […]Die letzten sechs verse aber mögen sich zwar schrencken wie sie wollen; doch ist am bräuchlichsten / das der neunde  vnd zehende  einen reim machen […].“
Und so fort. OpitzOpitz

Ein einigermaßen kompletter Eindruck vom Werk des Andreas Gryphius entsteht allerdings erst, wenn man auch an sein dramatisches Schaffen erinnert. Schon recht erfolgreich war er zu Lebzeiten mit seinen historisierenden Trauerspielen “Leo Arminius“ (1650) und “Catharina von Georgien“ (Ende 1640er Jahre). Catharina von Georgien

Die wenigen überlieferten Porträts des Dichters zeigen nicht die Spur eines Lächelns oder ein wenig Schelm um Mundwinkel oder Augen. Doch auch ein gehöriges Maß an Spott und an Fähigkeit, sein Publikum zum Lachen zu bringen, beweist Gryphius in zwei Komödien, die auch heute noch auf deutschsprachigen Bühnen bestehen können: Von Shakespeares “A Midsummer Night’s Dream“ hat Gryphius sich bei “Absurda comica oder Herr Peter Squentz“ (1657) inspirieren lassen.
„Horribilicribrifax“ (1663) verspottet, recht derb, den Bildungsdünkel Ungebildeter, ihren komisch-falschen Umgang mit fremden Sprachen und mit schlecht verstandenen sozialen Rangstufen.

“Ewigkeit“ ist einer der Leitbegriffe in den oben zitierten Gedichten. Die 23 Amtsprachen der Europäischen Union halten 20 verschiedene Vokabeln dafür bereit. Nur das Italienische und Maltesiche teilen sich “eternità“, das Tschechische, Slowakische und Slowenische „vecnost“.

EU Ewigkeit

Im türkischsprachigen Teil des Mitgliedstaates Republik Zypern spricht man von “sonsuzluk.