Haus der deutschen Sprache
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Das Kulturland ohne seines Pudels Kern?

Nordrhein-­Westfalen streicht den Faust aus der Abiturpflichtlektüre

Weltweit erlernen Menschen in großer Zahl die deutsche Sprache. Viele davon haben handfeste sachliche Grün-de für diese Bemühungen, zum Beispiel, weil sie in Deutschland arbeiten wollen. Ich bin Mitglied einer riesigen Deutschlerngruppe bei Facebook und erfahre dort tausendfache andere Begründungen für die Mühe, diese wirklich nicht ganz einfache Sprache zu erlernen. Die Philosophie wird oft genannt. Tatsächlich gibt es mehr als ein paar Hundert Menschen, die gerne Kant in der Originalsprache lesen wollen – auch Nietzsche, auch Schopenhauer, auch Herder, sogar Habermas.

Auffällig viele Lernende möchten gerne deutsches Liedgut im Original verstehen können. „Die Ode an die Freude“ steht da weit vorne: „Dafür lieben wir Euch“, schrieb eine Deutschlernende aus China zur Ode, und ich war berührt. Eine Frau aus China liebt mich, weil ich zur Kulturgemeinschaft derer gehöre, die dieselbe Sprache wie Schiller spricht. Weitere musikalische Originaltextlesewünsche richteten sich an Wagner, Schubert, Mahler, Mozart (bzw. Schikaneder), häufig auch an die moderne Popmusik.

Aber zahlreiche literarische Texte führen die Listen an, deretwegen man Deutsch erlernen möchte. Und die meisten Texte stammen tatsächlich von einem einzigen Autor, seine Anziehungskraft ist vehement und global. Johann Wolfgang von Goethe heißt dieser Autor, der durch Hunderte verzaubernde Gedichte signifikante Teile der Menschheit wahlweise zu Tränen gerührt oder zur Verzückung gebracht hat. Und das mächtige Theaterstück „Faust – Der Tragödie erster Teil“ steht ganz vorne an erster Stelle. Man möchte Deutsch lernen, um den Faust im Original lesen zu können.

Es muss etwas dran sein an diesem sehr langen Bühnenstück, welches sich nur selten ein Theater erlaubt, ohne starke Streichungen aufzuführen. Fast immer fliegen ganze Akte heraus, ohne dass das dem Werk zu schaden scheint. Und auch als bekennender Faustverehrer muss ich zugeben, dass Auerbachs Keller ein faszinierendes Restaurant in Leipzig ist, die Tragödie aber vielleicht ohne diesen Akt auch gar nicht so schlecht gewesen wäre. Ja, der Faust ist dick, für ein Theaterstück für heutige Verhältnisse vielleicht zu dick. Es gibt Hunderte zu dicke Theaterstücke, an die sich heute kein Mensch mehr erinnert. Der Faust ist unvergessen. Dieses Bühnenstück hat etwas Besonderes.

Vielleicht dies: Man kann eigentlich eine beliebige Stelle aufschlagen und stößt auf eine Zeile, die jeden geistig aufgeschlossenen Menschen anspricht. „O glücklich, wer noch hoffen kann, aus diesem Meer des Irrtums aufzutauchen.“ Das war Selbstversuch 1. „Es ist ein gar unschuldig Ding, das eben für nichts zur Beichte ging; über die hab ich keine Gewalt.“ Das war Selbstversuch 2.

Man kann eigentlich in diesen Text hinpieksen, wo man will. Man stößt auf eine schöne Formulierung, eine Anregung, einen Gedanken, eine neue Idee, eine neue Perspektive, eine neue Frage, eine kleine Irritation. Der Faust ist reich. Und wenn man nicht piekst, sondern den Faust liest, wird man mit solchen Dingen überschüttet und man findet keine schönen Formulierungen, man findet überwältigende Sätze und Szenen, Sätze und Szenen, die süchtig machen können.Die drei Erzengel im Himmel. Fassungslos lese ich diese Zeilen zum x-ten mal, fast ebenso ergriffen das Gespräch zwischen Gott und Mephisto.

Die Nacht im Studierzimmer, der Osterspaziergang, der Bund zwischen Faust und Mephisto, die Begegnung mit Gretchen. „Mein Ruh ist hin, mein Herz ist schwer, ich finde sie nimmer und immer-mehr.“ Nein, zur Ruhe hat mir die Faustlektüre noch nie verholfen, weshalb ich sie auch nie am Abend lese. Sie macht mein Herz schwer, regt mich auf, konfrontiert mich mit Fragen, die sie dann gemeiner-weise in keiner Weise beantwortet. „Dass ich erkenne, was die Welt, im Innersten zusammenhält.” Ich wüsste es gerne, aber Goethe wusste es wohl auch nicht. Die Frage jedoch ist magisch, wertvoll, unverzichtbar. Kulturmenschen müssen sich solche Fragen stellen. Durch diese Frage ist der Faust zur Weltliteratur geworden. Durch diesen einzigartigen Versuch, den Dingen nicht eine, sondern viele neue Perspektiven zu verleihen, entstand eine Art Tür zu einer Welt, die immer deutlich größer als die Ursprungswelt der einzelnen Leser ist.

Seit seiner Erstveröffentlichung 1808 hat das Drama die Menschen ergriffen, hat die deutsche Sprache verändert und geprägt. Nicht nur durch die zahlreichen Redewendungen, die vom Faust in die Alltagssprache gekommen sind, sondern auch durch eine neue Sicht auf sprachliche Schönheit. Wie hört sich ein guter deutscher Satz an? Na ungefähr wie im Faust. Er muss einen Fluss haben, eine Melodie, eine Pointe: „Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?“

Ich bezweifle, dass alle Schüler, die den Faust kennenlernen durften, erkennen konnten, mit welchem Edelstein sie es zu tun hatten. Bei einigen wird schon deshalb ein Schulterzucken das Lektüreergebnis sein, weil der vermittelnde Lehrer ebenfalls nicht wusste, was er da vermitteln sollte. Das Band mancher Lehrer zu unseren Kulturgütern ist dünn geworden. Aber jeder junge Mensch hat die Chance verdient, dieses Werk aus einer anderen Sphäre kennenzulernen. Das darf man ihnen nicht vorenthalten.

Der weise Nathan soll als vorläufiger Ersatz für den Faust dienen. Im Nathan geht es letztlich nur um die relativ kurze Ringparabel. Die hat ein guter Lehrer in einer Doppelstunde besprochen, ein schlechter in 45 Minuten. Und es bliebe viel Zeit für des Pudels Kern.

„Habe nun, ach! Philosophie, Juristerei und Medizin, und leider auch Theologie! Durchaus studiert, mit heißem Bemühn. Da steh ich nun, ich armer Tor! Und bin so klug als wie zuvor …“

Johann Wolfgang von Goethe: Anfangsverse Faust; Gemälde: Adriaen Matham/Rijksstudio