Haus der deutschen Sprache
Gedicht des Monats

Gedicht des Monats April 2011

Hinweis: schwäbisch
Bitte: durchhalten
Rat: laut lesen
BESONDERE RACHE
An arma Wittfrau hot a Soh,
Dear halt Soldat muaß’t weara.
Und ’s Müatterle, des jammert no,
Verguißt viel tauset Zähre.Sie woißt halt jetzt ihars Roths koi Ziel,
Und ischt voll Loid und Schmerza.
Koi Mensch ihar healfa ka und will,
Koin Traust geit’s für ihar Herza.Doch voar dem Dorf, wo d’Wittfrau ist,
Do stoht a schöas Kapelle.
Zu dem wallfatet mancher Christ
In harte Kreuz und Fälle.Dot ischt a Muattergottesbild,
Wo Wunder scho sind g’scheana.
Derbei ischt’s Jesuskind so mild
Und froidle gar a z’seahna.Do goth dia Wittfrau fleißig na
Und beathet reacht inbrünstig:
“Du bischt’s a loi, dia helfa ka!
Maria, sei mir günstig!“Und so drei ganzer Wocha got
Dia Wittfrau na zum Beatha;
Doch kommt koi Hilf und kommt koi Roth,
Nix ka da Soh ihar retta.Jetzt beathet se halt no a mol:
“O allerheiligst Fraule!
O hilf mir do, beim Hundertstrohl,
Gib, Muatter, miar mein Paule!“Paul bleibt Soldat und kommt it hoi,
Ear muaß halt trah dean Kittel.
As Mutterle, dia bleibt a loi,
Do hilft koi kristlich’s Mittel.Jetzt springt dia Wittfrau zuar Kapell,
Sie will vo noiz mei wissa,
Und hot dear Muatter Gottes g’schnell
As Kind vom Arm wegg’rissa.Sie schreit voar Rach: “Jetzt wisset’s Ihar,
Wia waih’s oim thuat und schmerza,
Wenn oim dear oinzig Soh wia miar
Wegg’rissa wut vom Herza.“
/Sohn
/werden
/nun
/Tränen/weiß nicht, wohin sich um Rat wenden/Trost gibt’s/Kapellchen (’Kapellele’)/dort
/geschehen/freundlich anzusehen/hin/allein/kann

/beim hundertfachen Strahl/Biltz
/nicht heim
/die Uniform tragen

 

/rennt
/von nichts mehr

/weh
/wie mir
/wird

Geschafft? Bravo! Gleich zweimal immerhin, in Strophe 2 und 10, sehen die ’Nordlichter’ beruhigt, dass auch in den südwestlichen Mundarten des deutschen Sprachraums “Herz“ und “Schmerz“ treu im Reim vereint sind. Die beiden, im Leben und in der Dichtung, gehören nun mal zusammen, wie beim Gedicht des Monats August 2009 zu sehen.
Die Verse stammen von Joseph Epple (1789-1846). Zu seinem Leben sind kaum Zeugnisse erhalten. Wir wissen aber, dass er in Biberach an der Riß geboren ist. Diese kleine Stadt liegt im Oberschwäbischen, etwa auf halbem Wege zwischen Ulm und dem Bodensee. Epple, aus ärmlichen Verhältnissen, ließ Epplesich zum Volksschullehrer ausbilden und fand 1810 eine Stelle in Schwäbisch Gmünd, etwa 100 km nördlich von Biberach und knapp östlich von Stuttgart gelegen. Sein kärgliches Gehalt konnte er ein wenig durch Privatunterricht und schriftstellerische Arbeiten aufbessern. Einer 1821 erschienenen Sammlung “Vermischte Gedichte in schwäbischer Mundart und in reindeutscher Sprache“ folgten zu seinen Lebzeiten einige weitere Ausgaben, zum Teil im Eigenverlag.
Seither war er so gut wie vergessen, bis ihm Helmuth Mojem 2010 einen prominenten Platz in seinem Buch “Die sieben Schwaben“ über Dialektdichter des 19. Jahrhunderts gab. Diesem Band 29 der “Bibliotheca Suevica“ verdanken wir Epples Gedicht, auch das offenbar einzige erhaltene Porträt und die folgenden Verse. Sie erinnern thematisch an das erste schwäbische Gedicht im HDS, an das von der schwäbsche Eisebahne. Epples gereimtes Zwiegespräch „zwischa Steaffa und Toni“ muss aus seinen letzten Lebensjahren stammen, denn die erste deutsche Eisenbahnverbindung (zwischen Nürnberg und Fürth) war erst 1835 eingerichtet worden.
[…] Und alle Zeitenga sind voll
Vom Eisabahna-Weasa.
Das Zuig macht miar da Kopf ganz toll,
Ih mags gar nimme leasa! […]
A graußer Of soll vorna sei,
Dear bring’ dia Fuahr zum Rutscha.
/Wesen/großer
/Fuhre
Dean fuirma aber wüathig ei,
Und hinta seiet Kutscha.
Dear Fuhrma hoiß Lokomotief,
Häb’ weder Gäul’ no Peitscha.
Doch gangs bei ihm au manchmol schief? –
Jetzt thua miars du verdeutscha ! […]
/feuern wir kräftig
 Denn, so hieß es vorher im Gedicht, “Du, Toni, bischt in Nürnberg g’wea“.

“Verdeutscha“ – wirklich? Damit der Schwabe Steaffa etwas versteht, soll der Schwabe Toni es ihm ver“deutschen“? Seit ein paar Jahren werben die Baden-Württemberger scherzend  für sich und ihr Stammland (oder tun das nur die Württemberger?), sie könnten “alles – außer  Hochdeutsch“. Steffen hat schon recht mit seiner Bitte. Tünnes, Peer, Resi, Loisl, Jupp, Sissi, Ferdl, Ede, Xaver, Lisbeth oder Beat – sie sprechen in ihren unterschiedlichen Dialekten, und das heißt auch: Sie alle sprechen deutsch. Wenn sich freilich Ole und Vroni verständigen wollen, dann sind sie mit Hochdeutsch gut beraten.Das erklärt, warum es zwar in allen deutschsprachigen Regionen reiche Dichtungstraditionen im jeweiligen Dialekt gibt, doch diese in ihrer Wirkung lokal begrenzt bleiben. Daheim liebt man sie, doch anderswo versteht man sie nicht oder nur mit Mühe. Oft, doch nicht immer, sind auch die Themen mundartlicher Dichtung so eng an lokale Traditionen, Mentalitäten und landschaftliche Besonderheiten gebunden, dass sie in anderen Gebieten wenig Interesse finden.Schließlich behindert auch das Erfordernis der Schriftform die überregionale Wirkung der Dialektdichtung. Unser Alphabet mit seiner festgelegten Beziehung zwischen den einzelnen gesprochenen Lauten und den geschriebenen Buchstaben kann Gebietsfremden viele der mundartlichen Aussprache-Besonderheiten nicht akkurat vermitteln. Wie anders soll der Hamburger Dichter seinen s-pitzen S-tein schreiben als mit sp oder st, wie der sächsische oder bairische sein a, das oft, aber dann wieder nicht immer, fast wie ein o auszusprechen ist. Kann man im Druck eines plattdeutschen Verses irgendwie erkennen, dass das o, wie hochdeutsch etwa in “groß“, für einen ganz anderen Klang steht als das plattdeutsche o in der Überschrift „Gode Nacht“ von Storms Gedicht? Wenn ein Göttinger Epples Gedicht einem Reutlinger vom Blatt vorläse, stünden dem Schwaben wahrscheinlich die Haare zu Berge. Oder die Dresdnerin, der eine Wienerin Georg Böttichers sächsisches Gedicht (Januar 2011) am Telefon vorläse, würde ihren eigenen Dialekt nicht wiedererkennen …

Gewiss ist die Feststellung des schwäbischen Dichters Wilhelm König (* 1935 in Tübingen) richtig: “Überhaupt – Hochsprache: das Wort besagt, daß diese irgendwie über den Dingen schwebt. Mundart indessen steht mitten unter den Dingen, setzt sich unmittelbar mit den Vorfällen zwischen den Leuten vor Ort auseinander.“Auf der anderen Seite dieser Medaille steht jedoch (siehe oben): Die auf mehrfache Weise wirkende Beschränkung mundartlicher Dichtung auf begrenzte Regionen ist ein Grund dafür, dass die Dichter, die im ganzen deutschen Sprachraum wirken und anerkannt werden wollen, schon seit Jahrhunderten das Hochdeutsche bevorzugen. Das ist keine Verachtung der Mundarten, sondern Einsicht in die Realität des kulturellen und sprachlichen Großraums.
Alemannisch Sprachatlas
Kehren wir zum Schwäbischen zurück!
Es ist, wie dieser Ausschnitt aus dem dtv-Atlas “Deutsche Sprache“ zeigt, ein Teildialekt des großen alemannischen, des “westlichen oberdeutschen“ Sprachraums. Den teilen sich Württemberger, Badener, die verbleibenden Deutschsprachigen im (politisch französischen) Elsaß, die Deutschschweizer, die Liechtensteiner und eine kleinere Gruppe von Vorarlbergern (am österreichischen Ostufer des Bodensees).

Außerdem gibt es noch immer kleine deutsche Sprach-Enklaven auf dem Balkan, in denen sich auch Spuren alemannischer Mundarten erhalten haben.

 

 

Für Außenstehende mögen die verschiedenen west-oberdeutschen Dialekte, vielleicht mit Ausnahme des Schweizerdeutschen, ziemlich ähnlich klingen, für ihre Sprecher jedoch nicht.
Es gibt zahl- und umfangreiche sprachwissenschaftliche Untersuchungen zu diesem Thema, zu den ’gravierenden’ Unterschieden.Zur Illustration ein Zitat aus dem “Wörterbuch deutscher Dialekte“ (U. Knoop mit M.Mühenhort, Gütersloh 1997): “Zwischen dem schwäbischen (württembergischen) und dem badischen Teil des Alemannischen […] bestehen […] große Unterschiede […]: Sind’r scho mol z’Basel gsii? fragt ein Badener einen Berliner. Det ha ick nich vastandn. Ein Schwabe will helfen: Er moint gwea! Die Form des ’gewesen’ wird im Badischen mit ’sein’ gebildet und im Schwäbischen unter Ausfall des -s- mit ’gewesen.’“Der Baseler Dialekt nennt übrigens alle Deutschen kurzerhand “Schwobe“.
Der weiter oben zitierte Wilhelm König hat selber schwäbische Gedichte geschrieben, tut es hoffentlich noch immer. Sie wurden erstmals in der Sammlung “Dees ond sell. Gedichte in mittelschwäbischer Mundart“ (Karl Knödler, Reutlingen 1975) veröffentlicht.  Wilhelm König
     MEI VRMEEGAI haos et iibrig
i muaß jeda Daag drom schaffai koos et oemool en Gosch nämma
ond no wiidr ausschbuggai bee vor morgads bis obads ondrwäägs
ond endr Naacht schloofes fälltmr niks en Schaoß
wenne d Hood aufheeb
fange niks aufniks fälltmr zua
niks kriage omasonscht
i will ao niks omasonscht
i willmrs vrdäanat haoi hao koe Zeit zom froga
moos nokomma ischt
waase ällas hao sotts miist schao a Boomstamm
en mein Wäag falla
daße ao an Grond het
zom schtao bleibasolang halte mei Gosch ond schaff
oemool wird’s schao oenr merga
/Vermögen/habe nichts im Überfluss
/dafür arbeiten/nicht mal in den Mund nehmen
/schlafe ich/wenn ich die Hand aufhalte/umsonst/verdient/keine
/wo es hingekommen ist
/haben sollte/müsste schon/auch
/stehen bleiben/halte ich meinen Mund
/einmal wird’s schon einer merken
Weniger Grantiges kommt gleich, doch zuerst das noch von König:
     D WOARATD Woarat wirdma
jo no saaga däffa
wema schao sich anda
Achtschtondadaag hältwema sich schao uff
andre Zeita aegschtellt hot
wema schao koe Biar mae kriagtwemas ao sonscht
et so gnao nammt: abr
do gucketma druff
/Wahrheit/wenn man sich schon/eingestellt
/kein/wenn man es auch
/nicht
/achtet man

“Der Schiller und der Hegel,
der Uhland und der Hauff,
das ist bei uns die Regel,
das fällt uns gar nicht auf.“

Das bekommt – in etwas pikiertem Hochdeutsch – zu hören, wer leichtsinnigerweise die gebotene Ehrfurcht vor dem ’Ländle’ und seinen Leuten vermissen lässt. Weil sie – sicher zurecht – ein gesundes Maß an Selbstbewusstsein haben, finden es Deutschlands Schwaben gar nicht komisch, wenn jemand über ihre Sprache witzelt, über ihre sprichwörtliche Sparsamkeit und Bedächtigkeit, über den Hang zum ‚Häusle-Baua’ oder gar über ihre geliebten Spätzle.

Sebastian Blau (1909-86), der unter seinem bürgerlichen Namen Josef Eberle, schon einmal im
HDS aufgetreten ist, spricht, und zwar in deftigem Schwäbisch,

IN EIGENER SACHE
Sotte hots ond s hot ao Sotte,
s ist et anders aosrerseits:
Feine, Grobe ond Bigotte
ond ao ebbes Domme geits.Mir, mir kennet aosre Fehler,
kratzet selber, mo s aos beißt,
mir, mir brauchet koan Krakeeler,
mo se drüber s Maul verreißt.
/Solche gibt’s
/nicht anders bei uns/ein paar Dumme/wir
/wo’s uns juckt/wo (= der)
Sebastian BlauFoto: Schwarzwälder Bote

S geit jo Mensche’, dia send schneller
mit em Maul als mit dem Hiin,
aber – send se dorom heller,
selle Sachse’-n-aus Berlin?Jeder schilt vo’ deane Koge’
über d Spätzlen, d Leut ond d Sproch,
ond des Gschwätzwerk, des verloge’,
schwätzt dr oa’ em andre’ noch.

Wenn oar konnt, deam aoser Schwäbisch
zwider ist vo’ A bis Zet,
gäb ma’m gearn, ao wemma bhäb ischt,
s Geld für sei’ Retuhrbillett.

/Es gibt/und [die] aus/diesen Grobianen/einer kommt/man ihm / wenn man geizig
Aus: Die trauten Laute. Schwäbische Ge-
dichte von Sebastian Blau. dva, Stuttgart 1975

Das ’Häusle-Baua’ (siehe oben) kennt heute auch der verstockteste Hochdeutschsprecher, und zwar aus der etwas zynischen, aber von den Schwaben selbst in Umlauf gesetzten Verkürzung ihrer Lebensphilosophie auf „Schaffa, schaffa, Häusle baua ond verrecka“.Das HDS und seine Gäste soll das nur sprachlich interessieren. Zunächst: Im Hochdeutschen bedeutet “schaffen“ soviel wie “erschaffen“ und braucht folglich ein Objekt: “Er schafft sich eine neue Identität“. Im Schwäbischen dagegen ist “schaffen“ gleichbedeutend mit “arbeiten“, hat also kein Objekt: „I muaß jetzt schaffa“.Oder schwingt bei “schaffa“ manchmal doch ein wenig Stolz über das damit Geleistete mit? Schwer zu sagen.

Georg Holzwarth (*1943 in Schwäbisch Gmünd), Lehrer und Mundartdichter, spielt mit den diesen beiden Vokabeln. Oder geht es um mehr als Vokabeln?

ARBET

Bloga
muaß ma sich
fescht nolanga
muaß maso richtig wuala
muaß maond fescht
fescht schwitza
/plagen/zupacken/wühlen sooscht kennt s sei
daß ma au no
a Freid hot
an dr Arbetond des
des het doch mit schaffa
nex zom doa
/andernfalls/Freude/nichts zu tun
Georg Holzwarth, Schwäbische Gedichte,
Balladen und Lieder, dva, Stuttgart 1977
Arbeit – bekannt ist sie in allen 27 Ländern der Europäischen Union mit ihren 23 Amtssprachen, allerdings unter 22 verschiedenen Namen. Nur Polnisch und Slowakisch teilen sich einen: práca.
Im türkischsprachigen Norden des EU-Landes Zypern heißt Arbeit “ Iş“.
 Arbeit
Barbara und Klaus-Dieter Atzler in Bietigheim haben dem HDS bei der Beschaffung der schwäbischen Texte geholfen. Danke.